Neue Einheit  -  Internet Statement 2003-24

www.neue-einheit.com

 

Hartmut Dicke             

Über die Herkunft des Judentums

                          Entwicklung und Bedeutung

      

I.

Unter den kulturgeschichtlichen Fragen nimmt die Frage der Herkunft des Judentums zweifelsohne eine fundamentale Stellung ein. Zum einen, weil es als ein über 3000-jähriges Phänomen auf die gesamte Geschichte des mediterranen Raumes wie auf Europa und über dieses auch auf die gesamte Entwicklung der Welt nachhaltigen Einfluß genommen hat, zum anderen deshalb, weil es zugleich Quelle auch der beiden größten Religionen und der von ihnen verbreiteten sittlichen Anschauungen ist. Diese Religionen aber, einschließlich des Judentums, haben eine Fülle der frühgeschichtlichen Erfahrungen in sich aufgenommen, aber auch in einer ganz bestimmten Weise umgeformt, die den frühen Herrschaftsverhältnissen zur Zeit ihrer Entstehung entsprach. Sie haben das Denken mitgeprägt. Aus all dem aber folgt wie selbstverständlich, daß das Judentum eine fundamentale gesellschaftliche Frage nach Herkunft und Substanz in sich trägt.

Seit dem 17.Jahrhundert schon entdeckte man einzelne Tafeln des Altertums, der alten Ägypter, der mesopotamischen Völker und sogar der Hethiter [1] . Aber erst in dem neunzehnten Jahrhundert, mit der Entwicklung des Kapitalismus und der Internationalisierung, der Ausbreitung der bürgerlichen Herrschaft, nahm man die alten Zeugnisse systematisch ins Visier und begann die alten Kulturen, die auch bei der Ausbreitung und bei der Entstehung des Judentums wie zahlreicher anderer Religionen eine zentrale Rolle spielten, zu analysieren.
Im Jahre 1822 gelang es Champollion [2], die ägyptische Hieroglyphenschrift zu entziffern und damit einen entscheidenden Schritt zur Untersuchung der alten vorantiken Gesellschaften zu leisten. Die Keilschrift war in Ansätzen um 1800 entziffert worden, aber auch hier wurde durch Systematisierung erst im Laufe des 19.Jahrhunderts der entscheidende Schritt getan. Die Analyse der Keilschriften Mesopotamiens erwies sich als besonders dankbar, denn in Mesopotamien wurde bereits das Alltagsleben auf Tontafeln festgehalten, die man bei den Ausgrabungen zu Tausenden fand.

Im Jahre 1887 fand man gar das Keilschriftarchiv in El Amarna, der Fundstelle einer früheren Hauptstadt Ägyptens, Achet-Aton, die zwar eine zeitlich kurze, aber sehr umwälzende und bedeutende Rolle spielen sollte; es handelte sich um das diplomatische Archiv der 18. Dynastie des Neuen Reiches in Ägypten, die mit den Völkern Mesopotamiens, vor allem mit dem babylonischen Reich, mit dem hethitischen Reich, wie auch mit kleineren Potentaten eine intensive Korrespondenz führte. Die drei Staaten bildeten damals die Weltmächte in der gesamten ”mittelöstlichen Sphäre”, führten einen Kampf um die Hegemonie, zahlreiche Kriege untereinander, aber hatten auch einen intensiven Handelskontakt. Die Auswertung dieser wie anderer Funde ermöglichte es, die Geschichte des zweiten Jahrtausends vor unserer Zeitrechung verhältnismäßig im Detail zu erforschen. Dies aber ist der Zeitraum bevor die jüdische Religion in ihrer festgelegten Ausprägung des alten Testamentes entstand.
Seit etwa 1840 haben wir Ausgrabungen im modernen systematischen Sinn. Sie lieferten Jahrzehnt für Jahrzehnt ein vollständigeres Bild der frühgeschichtlichen Zeiten. Und man sah, daß bereits dieses zweite und sogar das dritte Jahrtausend vor d.Z. in Mesopotamien über ein Vertragswesen in der Ökonomie, über Geld, ein Gesetzwesen, über Literatur und Dichtung, ja über Ansätze einer systematisierten Philosophie verfügte, und man sah, wie sich der religiöse Glaube im Laufe von Jahrhunderten entwickelt hatte. Bereits um die Wende zum 20.Jahrhundert verfügte man über zahlreiche Belege für die Herkunft der einzelnen religiösen Kulthandlungen, man analysierte die Bibel nach einzelnen Autoren, betrieb eine Zeitbestimmung und die Analyse der Abänderungen.
Noch wichtiger aber war die Entdeckung, daß eine Reihe von Motiven der Bibel längst in der alten Kultur bestanden und Jahrhunderte später von den Autoren des Alten Testaments umgearbeitet worden waren. So gibt es die Geschichte von der Genesis der Welt und die des Menschen aus der Erde, das Motiv mit der Schlange, die Sintflut und die Geschichte von Noahs Arche in diesen viel älteren mesopotamischen Dokumenten. Und das Christentum erst? Es sollte sich zeigen, daß viele der Ideen ihre Vorläufer in Ägypten oder in jüdischen Gruppierungen lange vor dem Zeitwechsel hatten. Kurz, die Religionen ließen sich analysieren, das war schon bei Ausbruch des 1.Weltkrieges klar.
Während des Krieges gingen die international betriebenen Ausgrabungen weiter. Während der zwanziger Jahre schließlich kam man zu weiteren sensationellen Funden in der ägyptischen Geschichte. Noch mehr, auch die Geschichte des palästinensischen Zwischenraumes (zwischen den Großmächten nämlich) konnte man immer detaillierter analysieren und die in der Bibel erwähnten Stämme im einzelnen beschreiben.
All diese Forschungen waren weder von der Kirche noch von der jüdischen Orthodoxie gut gelitten, von dem Islam ganz zu schweigen. Denn sie nahmen der gesamten Grundlage der Religionen den Nimbus weg. Die Kirche sprach sich offen oder indirekt gegen diese Forschungen aus, denn sie spürte, daß dieses Wissen ihre Lehre auflöste. Der Pentateuch, die fünf Bücher Mose, waren das Produkt der literarischen, und zwar der politisch bestimmten literarischen Tätigkeit der jüdischen Priesterschaft sowie der literarischen Umarbeitung früherer Texte. Diese Forschungsarbeit ist nicht zu unterschätzen, sie ist auch ein wesentlicher Pfosten für die wissenschaftliche Durchdringung der menschlichen Entwicklung und unserer Welt, also unserer modernen Weltanschauung.
Es gab auch Kleriker, die sich selbst an der Untersuchung der Texte beteiligten, wie der evangelische Theologe Ernst Sellin, der in detektivischer Kleinarbeit Widersprüchen in der Entwicklung der frühen Bibeltexte und der Erlebniswelt des jüdischen Volkes in seiner Entstehung nachging. Die Erklärung der Religion nahm einen großen Raum in der geisteswissenschaftlichen Forschung der zwanziger bis sogar dreißiger Jahre ein.[3]

Unter denen, die an diese Forschungen anknüpften, befand sich auch Sigmund Freud, der sonst kaum mit historischen Analysen oder Forschungen hervorgetreten ist, sondern für die von ihm so begründete "Psychoanalyse" steht.
Er unternahm anknüpfend an all diese Forschungen eine Arbeit, die von all seinen übrigen Arbeiten absticht, den Versuch, die sich aufdrängenden wichtigsten Resultate und Entdeckungen bezüglich Ägyptens in einen Zusammenhang zu stellen.
Es handelt sich um ”Der Mann Moses und die monotheistische Religion”, die in Fachkreisen heftig diskutiert werden sollte, in der breiten Öffentlichkeit aber viel weniger bekannt ist, darin vor allem das II. Kapitel, das im Unterschied zu faktisch allen anderen Werken von Freud eine Art historischen Abriß oder historische Rekonstruktion darstellt. Das erste Kapitel stellt dazu eine Einleitung dar. Freud selbst legt Wert auf die Feststellung, daß diese Darstellung eine Entwicklung einer Hypothese ist, mit der er versuchte, so viel als möglich den festen Anhaltspunkten zu entsprechen, zu einem geschlossenen Bild zu gelangen. Diese Schrift veröffentlichte Freud nach mehrjähriger Vorarbeit als Einzelteile zuerst 1937 in Wien und im Exil 1939 als zusammenhängende Gesamtarbeit. Der kurz darauf beginnende 2.Weltkrieg behinderte die notwendige nachfolgende Diskussion, obwohl diese Veröffentlichungen sofort zu den heftigsten Reaktionen führten. Der Teil 3 innerhalb der Gesamtarbeit schließlich stellt wieder Freuds eigene Religionstheorie in den Vordergrund, dort wird versucht, die vorgenannte Darstellung zu verifizieren. Schon 1912 hatte er die religionsgeschichtliche Arbeit „Totem und Tabu“ geleistet, die in die Erklärung der frühen Religion für den Autor typische Elemente aus dem hypothetischen Gruppen- und Hordenwesen der Menschheit mit aufnahm. Dies versuchte er nun zu verbinden.

Die Berufung auf Sigmund Freud bedarf hier allerdings einer Kommentierung. Denn welche Stellung nehmen seine sonstigen Schriften, das heißt die sog. Psychoanalyse, in der Auseinandersetzung seit Ende des 19. Jahrhunderts ein? Was fanden denn Freud und seine Anhänger bei ihrem Beginn als Ausgangspunkt in den Wissenschaften vor?
Über die Lehren des 17. und 18. Jahrhunderts hinaus war man schon zu einer weiteren Stufe der Erkenntnis über die soziale Entwicklung gekommen. Ähnlich wie in den Naturwissenschaften auch hatte man in den Fragen der Entwicklung der Gesellschaft einen neuen Grad der Geschlossenheit der Erkenntnis gewonnen. Karl Marx gelang es, eine schon sehr geschlossene Anschauung über die Entwicklung der ökonomischen Grundlagen, der sozialen Institutionen und des Überbaus zu entwickeln. Seine Lehre ließ sich alsbald, nachdem man sie anfangs totzuschweigen versuchte, selbst aus der bürgerlichen Welt nicht mehr wegdenken. Die soziale Welt aus ihren eigenen Widersprüchen her zu analysieren, das gaben jetzt auch bürgerliche Soziologen als ihre Methodik vor.

Vor diesem Hintergrund müssen wir die Freudsche Theorie der "Psychoanalyse" bewerten. Sie läßt die gesellschaftlichen Faktoren radikal außen stehen, stellt den Menschen als ein Produkt isolierter Triebe dar und macht eine manchmal schon penetrant auf die Nabelschau des Einzelnen gerichtete isolierte Betrachtungsweise zum Grundsatz. Man muß dies als eine Art von Opposition gegen die vorhandenen gesellschaftlichen Erkenntnisse begreifen. Wir können nicht davon ausgehen, daß Freud und seine Mitstreiter von den damals neuen gesellschaftlichen Theorien nicht gehört hatten, für eine solche These spricht bei einem so gebildeten Mann wie Sigmund Freud gar nichts. Es ist – um es direkt zu sagen - die Opposition von Leuten, die sich bestimmten Erkenntnissen verweigern und zugleich auf solchen Sektoren, die noch nicht so starke Untersuchung in der Wissenschaft gefunden haben, neue Erkenntnisse entwickeln, um dadurch Gegenpositionen aufzubauen.
Warum also sich mit dieser Schrift unter diesen Bedingungen befassen? Es ist zum einen notwendig, weil hier neue Gebiete angesprochen werden - was der Marxismus über die kulturellen Elemente aus der Frühzeit entwickelt ist noch keineswegs zu Ende entwickelt. Zum anderen stellt sie eben eine Ausnahmeentwicklung dar, so daß sie bei der Analyse der Entstehung der Religion und namentlich des Judentums gar nicht übergangen werden kann.


Ausgangspunkt ist bei dem Entwicklungsgang von Freud die bürgerliche Medizin, die schon immer mit der Herrschaft auf das engste verbunden war, die man als einen Machtfaktor innerhalb des Staates begriffen hat.
Nochmals. Während sich also in ganz Europa der Marxismus und daneben auch andere gesellschaftliche Theorien wie zum Beispiel die von Max Weber ausbreiteten, postulierte Freud seine "Psychoanalyse". Freud verkörpert sehr stark Ignorantentum gegenüber dem gesellschaftlichen Zusammenhang. Wenn man bedenkt, daß damals die ganze intellektuelle Welt und der politische Kampf sich gerade um diese Neuerung drehten, kann man nicht davon ausgehen, daß Freud davon nicht Kenntnis nahm. Er ignorierte es demonstrativ. An die Stelle treten Betrachtungsweisen, die Triebe als dominante Kraft des Menschen darzustellen, und zwar in einer faktisch konstanten, unabänderlichen, außerhalb der gesellschaftlichen Entwicklung und Gestaltung stehenden Form. Sie stehen außerhalb seines Bewußtseins oder über seinem Ich, das heißt über seiner Identität. Das trat direkt dem damaligen Emanzipationsdrang, immer weiter Kenntnis über die eigene Entwicklung zu erlangen, der sich in allen Entwicklungstheorien der Gesellschaft und der Naturwissenschaften äußerte, entgegen. Immerhin muß man konstatieren, daß, wenn auch diese Theorie unter einer völligen Eindimensionalität leidet, sie doch an bestimmten Punkten und offenen Fragen anknüpfte. So schrieb Freud das genannte Buch "Totem und Tabu", das an einer Reihe von Lehren über die Frühgeschichte und die Entwicklung der Religion in bestimmten Thesen anknüpfte. Wie er aber an diese Fragen herangeht, das muß uns hier interessieren, weil er das mit bestimmten Thesen, die er später entwickelte, verband.
Das Buch "Der Mann Mose und die monotheistische Religion" nimmt also innerhalb seines Werkes eine außergewöhnliche Stellung ein. Das Kernstück, das zweite Kapitel über die (mögliche oder wahrscheinliche) ägyptische Abkunft des Mose, ist kein "psychoanalytischer" Artikel, sondern eine historische Abhandlung, ein Versuch, Indizien für eine Erklärung des Judentums zu geben. Freud entschuldigt sich fast am Ende dieses Kapitels wegen seiner historischen Ausführungen und begründet, daß dies für seine weiteren Darlegungen notwendig sei. Welch eine Ausnahmestellung dieses Büchlein einnimmt, wird auch daran deutlich, welche Auseinandersetzungen es hervorruft. Es gibt inzwischen schon eine große Zahl von Büchern, die sich mit den Thesen dieses Buches heftig auseinandersetzen, vor allem im englischsprachigen Bereich. Und eine Reihe von Autoren bestätigen, daß dieses Buch, ob negativ oder positiv, eine ganz wichtige Rolle in der Reflexion des Judentums selbst einimmt.


Als ein Beispiel kann hier Ilse Grubrich-Simitis gelten, die die Herausgeberin der Freudschen Werke ist, eine entschiedene Verteidigerin der ”Psychoanalyse”, unter anderem Autorin eines Buches "Zurück zu Freuds Lehren". Gegen die oben genannte Schrift aber speit sie Gift und Galle, möchte sie zu einem "Tagtraum" erklären, zu dem Produkt eines alternden Freud, der auf Grund seiner Lebensumstände nicht mehr der Herr seiner selbst war [4]. Am liebsten würde sie diese Schrift verschwinden machen.
Freud hatte aber gerade an diesem Thema mindestens 6 Jahre gearbeitet und faktisch seine ganze verbliebene Energie in sie gesteckt. Im Gegenteil, in dieser Schrift spürt man, daß der Autor sich bemüht, möglichst präzise seine Gedanken niederzulegen. Er wiederholt mehrfach die Darstellungen, führt sie immer neu aus. Obwohl kein Historiker und kein Archäologe von Beruf, versucht er sehr sorgsam, den verschiedenen vorhandenen Erkenntnissen gerecht zu werden, und versucht, auch Widersprüchen in seiner eigenen Argumentation nachzugehen. Daß er schließlich wenige Monate vor seinem Tod die ganze Schrift in seinem Londoner Exil veröffentlichen konnte, war ihm wichtige Genugtuung.


Es gab also vor Freud schon Versuche, diese historischen Zusammenhänge zu formulieren, und es gab Freuds eigene Schrift von 1912. Hier aber ging Freud viel weiter. Er versuchte, die Sache in einen logischen, historischen Zusammenhang zu stellen und das Judentum zu erklären, wobei er sich nunmehr auf eine Fülle von Anhaltspunkten stützen konnte.

Er ging davon aus, daß der in der Bibel geschilderte Auszug aus Ägypten unter Führung von Mose auf tatsächlichen Vorgängen beruhte, und daß es sich bei Mose - der Name ist schon von seiner Herkunft ägyptisch – um einen Anhänger des besonderen „Reform” -Pharao Echnaton gehandelt habe, oder um einen Anhänger einer vergleichbaren Richtung. Echnaton war ein Pharao, der in dem ägyptischen Staat eine kurzzeitige, aber intensive Revolution betrieb, die dem vollkommen von Korruption beherrschten Betrieb der alten Amun-Priesterschaft den Krieg erklärte und einen neuen fast schon naturalistischen Kult der Sonnenscheibe Aton einführte. Sein ursprünglicher Name war Amenhotep IV, er nannte sich in Achenaten, bei uns meistens als Echnaton geschrieben, um.
Diesem Bruch lagen konkrete Veränderungen in der ägyptischen Gesellschaft zugrunde. Die alten gesellschaftlichen Verhältnisse sahen sich durch die Kriege [5] und durch den Handel einer internationalen Welt gegenüber, Ägypten relativierte sich selbst und nahm neue Ideen auf, man kann von einer Art Universalismus sprechen; die alte Totem-Götterwelt, die Ägypten 1500 Jahre beherrscht hatte, stand auf dem Gebiet der Ideen dieser Erneuerung im Wege. Bald nach dem Tode des Echnaton kommen die alten Kräfte in Ägypten wieder zur Macht und betreiben eine erbitterte Restauration. Bei Freud nun geht der Ägypter Mose als Anhänger einer neuen Schule in einer Zeit, in der diese von der ägyptischen Herrschaft bereits bekämpft wird, zu den – historisch sicheren – hebräischen Stämmen in Ägypten, um dort zu versuchen, die neuen Lehren anzuwenden. Unter den Bedingungen in Ägypten, die nunmehr den Umsturzlehren feindlich gegenüberstehen, sucht er den Exodus. Eine Reihe von Hinweisen kann Freud für diese Hypothese anführen, und vor allem kann er schlüssig eine Reihe von Phänomenen des Judentums erklären.
Er entwickelt seine Ansichten über einen möglichen bis wahrscheinlichen Ablauf.

Auf oder nach dem Durchzug durch den Sinai trifft dieser Exodus auf einen anderen Stamm von Hebräern, der ethnisch mit dem ersten verwandt, aber auf einer ganz anderen Stufe stehend als die möglicherweise über mehrere Generationen in Ägypten anwesenden Stämme und Familien. Hier liegen die Quellen für eine zweite Mosesgestalt, die in der Tat und gar nicht unauffällig in dem Alten Testament zu finden ist. Er vertritt eine Stammesreligion, die östlich des Jordangrabens und des Golfes von Akaba beheimatet ist, und die so gar nicht auf den ursprünglichen Mose paßt. Hier wird ein ursprünglicher Gott Jahwe vorgestellt, der eine Art zorniger Vulkangott ist, der Freund und Feind das Fürchten lehrt. Aus dieser Quelle stammt der midianitische Prophet. Diese Gestalt wird in den späteren Darstellungen dem Mose überlagert und an seine Stelle gesetzt.[6] Freud geht im Anschluß an die Überlegungen eines anderen Religionswissenschaftlers davon aus, daß der ursprüngliche ägyptische Mose ermordet worden ist, von den Angehörigen des Trecks, den er selbst geführt hat. Als Ursachen sieht Freud hierfür mögliche Charaktereigenschaften wie Herrschsucht und das grundsätzliche Problem für einen Aufklärer, mit einem solchen noch mit ursprünglichen Vorstellungen behafteten Stamm wie den damaligen Hebräern zurechtzukommen. Dies führt zu einer Art Trauma.
Die alte Lehre aber, die zunächst erstickt wird, kommt immer wieder durch, weil sie etwas Grundlegendes und Vorwärtsweisendes aufzuweisen hat. Sie ist das Grundlegende des Judentums, während gleichzeitig eine überlagerte andere Lehre sich ebenfalls im Judentum äußert, es handelt sich um eine Usurpation. Freud stellt dies in seiner Sicht dar, deutlich spürt man seine gesellschaftlichen Anschauungen hindurch. Er erfaßt hier aber einen bestimmten Kern der Darstellung der uns interessiert. Es heißt zum Beispiel:

”Denn so unvollkommen unsere Berichte über die ethische Seite der Atonreligion sein mögen, es kann nicht bedeutungslos sein, daß Ikhnaton sich in seinen Inschriften regelmäßig bezeichnete als ,lebend in Maat‘ (Wahrheit, Gerechtigkeit). Auf die Dauer machte es nichts aus, daß das Volk, wahrscheinlich nach kurzer Zeit, die Lehre des Moses verwarf und ihn selbst beseitigte. Es blieb die Tradition davon, und ihr Einfluß erreichte, allerdings erst allmählich im Laufe der Jahrhunderte, was Moses selbst versagt geblieben war. Gott Jahve war zu unverdienten Ehren gekommen, als man von Qadesch [7] an die Befreiungstat des Moses auf seine Rechnung schrieb, aber er hatte für diese Usurpation schwer zu büßen. Der Schatten des Gottes, dessen Stelle er eingenommen, wurde stärker als er; am Ende der Entwicklung war hinter seinem Wesen das des vergessenen mosaischen Gottes zum Vorschein gekommen. Niemand zweifelt daran, daß nur die Idee dieses anderen Gottes das Volk Israel alle Schicksalsschläge überstehen ließ und es bis in unsere Zeiten am Leben erhielt.” [8]

Bei der Verwendung der religiösen Begriffe in diesen Zitaten muß man sich immer vergegenwärtigen, daß in der frühen Zeit gesellschaftliche Fragen zumindest sehr oft in einer religiösen Form abgehandelt wurden.


Diese Thesen, mit denen Freud das Judentum zu entschlüsseln versucht, werden an einer ganzen Reihe der historischen Erscheinungen verifiziert. Schließlich geht Freud in dieser Schrift auch auf das Entstehen des Antisemitismus, besser gesagt des Antijudaismus, ein, und liefert dabei auch noch eine Reihe Elemente zur Erklärung des Christentums. Es versteht sich von selbst, daß diese historischen Erläuterungen nicht ohne einen Aufschrei blieben. Sowohl die Kirche als auch der jüdische Klerus waren entschieden gegen diese Analyse. Freud hat sie nicht lange überlebt. Er starb drei Monate nach der Veröffentlichung im Alter von 83 Jahren im Londoner Exil.

Leider muß man feststellen, daß diese bedeutende Leistung der Analyse der Religion, des Materialismus, insgesamt nach dem 2. Weltkrieg nicht die entsprechende Würdigung und Fortsetzung fand, obwohl die Ausgrabungen und Altertumsforschungen wie auch die Erforschung der Steinzeit gewaltige Fortschritte gemacht hatten. Dies muß mit den politischen Veränderungen nach 1933 und nach 1945 erklärt werden. Die USA, die stark von religiösen Gruppierungen mitbegründet worden sind, fürchten diese Aufdeckungen, und auch in der Bundesrepublik, in denen die Kirchen mit staatlich verankert sind, gibt es Interesse, diese Entwicklung des menschlichen Wissens und der Aufklärung unter dem Deckel zu halten.


II.

Der Zusammenhang des Judentums mit der mesopotamischen Kultur ist offensichtlich. Seit hundert Jahren ist darüber eine umfangreiche Literatur entwickelt worden. Insbesondere die Genesisgeschichte (1.Buch Mose, die Entstehungsgeschichte) läßt die Vorgängerschaft mesopotamischer Legenden und Mythen erkennen. Der sumerische Garten Eden der Frühzeit könnte das Vorbild für das „Paradies” abgegeben haben, mit seiner Entfaltung des systematischen Gartenbaus und dem Reichtum, der Entwicklung der Erkenntnis. Es entwickelte sich schließlich Wohlstand und Klassengesellschaft und Auseinandersetzung mit äußeren Usurpatoren, die dem Aufbau zunächst einmal ein Ende bereiteten und ihn in nördliche Zonen verlagerten. Die Geschichte der Sintflut ist dort seit langem bekannt und taucht in mehr als einem Dokument auf.


Abraham, der biblischen Sage nach der Stammvater des Judentums, kam aus Mesopotamien, wie es heißt aus der Stadt Ur, einer sumerischen Gründung. Es ist überliefert, daß er über das Gebiet des nördlichen Mesopotamiens in das Gebiet des heutigen Palästina einwanderte. Dies wurde von verschiedenen Mächten umkämpft, in ihm existierte im Süden schon eine ägyptische Vorherrschaft, im Norden herrschten phönikische Städte, und die Hethiter stießen mit ihrer Hegemonie auf die der Ägypter, die den südlicheren Teil beherrschten.

Die sumerische Kultur hat auch die frühesten bekannten Gesetzeswerke bzw. -sammlungen geschaffen, die ihrerseits in dem Codex Hammurabi eine Weiterentwicklung fanden. Es gibt zahlreiche Parallelen zwischen diesem Gesetz und den Gesetzen des Alten Testaments, aber es gibt, gerade auch was den sittlichen Bereich betrifft, deutliche Unterschiede.

Ganz Mesopotamien macht mit einander abwechselnden Reichen eine bewegte Geschichte durch, in deren Laufe sich die Oberschicht immer weiter verhärtet. Die mesopotamische Kultur hat zumindest zu Anfang eine sehr unbefangene Einstellung zur Sexualität, die auch sehr direkt mit den religiösen Riten verbunden ist. Das Matriarchat, obwohl längst abgelöst, lebt in den religiösen Vorstellungen noch weiter, die Tempelprostitution wird in einer bürokratischen, dem Klassenwesen des Staates entsprechenden Weise reglementiert. Man muß davon ausgehen, daß die Weiterentwicklung und Brutalisierung der bürokratischen und sklavenhalterischen Herrschaft in diesem Raum, die schließlich in die Herrschaft des assyrischen Reiches übergeht, jede Form von Degeneration und verachtenswerter Schurkerei gegenüber den arbeitenden Massen in diesen Staaten hervorbrachte.
Die Abgrenzung gegenüber diesem Herkunftsland, die Abgrenzung gegenüber diesem Verfall läßt sich bei dem abramitischen Stamm, das heißt in seiner literarischen Darstellung, die in der Geschichte der Erzväter uns überkommen ist, erkennen. Diese Geschichte, wie sie heute in der Bibel steht, wurde von Priestern in viel späterer Zeit aufgezeichnet. Sie haben deutlich ihre Ideologie in die Bibel hineingeschrieben und spätere Elemente hinzugefügt. Als Substanz läßt sich dieses Bemühen nach einer Erneuerung, nach einem neuen Ausgangspunkt noch erkennen. Die Geschichten mögen umgeschrieben sein, davon auszugehen, daß sie keinen wirklichen Hintergrund gehabt haben, ist selbst realitätsfremd, das gilt genauso für den ägyptischen Exodus, der den Dreh- und Angelpunkt des gesamten Alten Testaments bildet.
Und nicht nur von der Vergangenheit grenzte man sich ab, sondern auch von den Abarten der „Fruchtbarkeits”kulte, die in der neuen Heimat, in dem Lande Kanaan, herrschten. Die etwas späteren Phönizier etwa, die in der ganzen Welt als wagemutige Seefahrer, Entdecker und Erfinder berühmt wurden, standen in Punkto der Kulte noch auf einem rückständigen Niveau. Nicht unwahrscheinlich, daß man gleichzeitig von ihnen Elemente übernahm. Nicht umsonst nimmt in der Frühgeschichte die Überwindung des „Erstlingsopfers” bei dem Menschen selbst, betreffend den ersten männlichen Nachkommen, die Geschichte von Isaac, eine so zentrale Rolle ein.[9] In der phönizischen Gründung Karthago (bei dem heutigen Tunis), die im westlichen Mittelmeer eine dominante Rolle einnahm, wurde der älteste Sohn noch zu Zeiten der Auseinandersetzung mit den Römern, das heißt gut 1000 Jahre später, als Opfer dargeboten. Die Geschichte der Vorentwicklung des Judentums in der Darstellung der Bibel ist eine Auseinandersetzung mit diesen Kulturen.

Dieser Prozeß der Abgrenzung ist mit Sicherheit nicht mit einem Schlag erfolgt, im Gegenteil, man mußte sich immer erneut mit den umgebenden Stämmen auseinandersetzen. Auch steht es in Frage, ob der Monotheismus der Juden hier mit einem Schlage geschaffen wurde. Das ist unwahrscheinlich.
Solche Einwanderer aus dem mesopotamischen Gebiet hat es gegeben, und die relativ zentrale Stellung dieses Gebietes, die Rivalität der Großmächte dort, die ihnen untereinander Schranken setzte, war eine günstige Voraussetzung für die neueindringenden Stämme. Dies war auch die Lage, in der Teile dieses neuen Stammes nach Ägypten gelangten und sich dort niederließen. Der Josephsage nach gelang es einem der Nachkommen Abrahams, in Ägypten in höchste Positionen zu gelangen. Dies ist möglich. Es fällt zeitlich ungefähr mit der Hyksoszeit zusammen, der 2. Zwischenzeit, in der fremde Eroberer für zwei Jahrhunderte in Ägypten herrschten, da die eigene zentrale ägyptische Herrschaft des Mittleren Reiches zusammengebrochen war.

Der Monotheismus der Juden hat ebenfalls Vorläufer-Entwicklungen in anderen Gebieten. Auch in Mesopotamien kann man eine zunehmende Verinnerlichung der Religion feststellen, ein Abstreifen der Naturkulte, was mit dem erhöhten Wissenstand der Gesellschaft zu erklären ist.

Hier wurde eine neue Sittlichkeit, ein höheres Verhältnis zur Sexualität entwickelt, ein höherer Anspruch des Menschen an sich selbst, was ein wesentliches Element des Zusammenhaltes der kommenden Gesellschaften bilden wird.
Die Entwicklung des Judentums nimmt sich zunächst im Vergleich zu dem, was Ägypten oder Babylon darstellen, ziemlich klein, wenn man so will „mickrig” aus. Aber die Elemente, die hier geboren wurden – - wenn auch nicht nur hier - – sollten sich von größter Wichtigkeit erweisen.
Man vergleiche diese sittliche Entwicklung etwa mit der von großen Teilen des alten Amerika (vor der Entdeckung) – mit ihren exzessiven Opferkulten, die der Gesellschaft die Stagnation diktierten. Auch Indien hat eine ganz andere Entwicklung auf diesem Gebiet hinter sich, es bildet ein Gegenbeispiel zu der mediterran-europäischen Entwicklung. Das, was sich da bei den Juden anfänglich entwickelte, konnte nicht perfekt sein, wir behandeln mit den hier angesprochenen Fragen dann die Widersprüchlichkeit in der Weiterentwicklung selbst.
Mit dem Eintreten der ägyptischen Epoche in der Entwicklung des Judentums kommt aufbauend auf diesen frühen Vorstufen ein neues grundlegendes Element hinein, das an diese anfänglichen Entwicklungen anknüpft.

III.

Von Anfang an war klar, daß die ägyptische Erfahrung bei dem Judentum eine fundamentale Rolle spielt, denn dies nimmt im Pentateuch selbst einen großen Raum ein. Die Widersprüchlichkeit der Darstellung, die Unterbrechungen und Wiederholungen im Text, der sich offensichtlich aus verschiedenen Bearbeitungen zusammensetzt, all das fiel auf. Aber mit der ägyptischen Götterwelt, wie sie dort über Jahrtausende dominierte, schien die israelitische Religion nichts zu tun zu haben, denn diese war absolut unterschiedlich, eher konnte man mit dem Christentum angesichts der betonten Jenseitsideologie der Ägypter gewisse Gemeinsamkeiten entdecken. Mit der Entdeckung der Amarna-Periode, die zeitlich einige Jahrzehnte vor dem Auszug des Moses aus Ägypten liegt, standen neue Möglichkeiten zur Debatte. Hier lag eine Religion vor, wie man alsbald bei den Ausgrabungen und Rekonstruktionen feststellte, die einige wesentliche gemeinsame Ansatzpunkte mit der biblischen Tradition des Pentateuchs aufwies. Die ersten Vermutungen, daß die Ideologie der Amarnazeit, die Epoche des Atonkults, mit der Entstehung des Judentums etwas zu tun haben könnte, werden sehr bald nach den Ausgrabungen zwischen 1900 und 1910 diskutiert. Der Religionswissenschaftler Eduard Meyer agiert bereits gegen derartige Thesen 1906, und in einem der ersten einschlägigen Bücher von Arthur Weigall über Echnaton [10] wird ein solcher Zusammenhang angedeutet.
Von den bekanntesten Vertretern der Epoche, Echnaton oder Nofretete, haben viele schon gehört, aber was sich mit dieser Epoche inhaltlich verbindet, wann sie stattfand, das ist keineswegs Allgemeinwissen. Deshalb sei hier eine kurze Übersicht gegeben.

Die ägyptische Geschichte beginnt etwa um die Zeit 3200 v.Chr., von den dort herrschenden Vorkulturen hebt sie sich in kurzer Frist zu außerordentlicher Höhe. Einer der Impulse für den plötzlichen Aufstieg bildet die Vereinigung der beiden Reiche des Nil-Deltas (Unteres Reich) und des langgezogenen Niltales (Oberes Reich) oberhalb des Deltas zu einem Staat etwa um 3100 v.C.. Der Grund für das ganz plötzliche Auftreten dieser Hochkultur ist noch nicht vollkommen klar. Einige vermuten auch das Eindringen eines Eroberervolkes aus dem mesopotamischen Raum, in dem zu dieser Zeit bereits Formen von Hochkultur herrschten, aber das ist keineswegs sicher. Man kann mit Sicherheit annehmen, daß der fundamentale Fortschritt in der Beherrschung der Naturkräfte, in den handwerklichen Fähigkeiten, der Entwicklung der Schrift und vor allem die Befähigung der systematischen Ausnutzung der Nilüberschwemmungen für die Landwirtschaft ein ausschlaggebender Punkt waren. Zweifelsohne setzte die Vereinigung enorme Synergiekräfte in dem gesamten neuen Staat frei.
Man muß nach heutigem Stand der Kenntnis auch wissen, daß weder Ägypten noch Mesopotamien die Anfänge der Kultur darstellen. Der heutige Stand der Ausgrabungen zeigt, daß das Zeitalter der Metallbearbeitung Tausende von Jahre auch in Zentraleuropa wie auch im Mittelmeerraum zurückreicht. Bereits in diesen Epochen entwickelten sich Arbeitsteilung und ein Fernhandel. Die ägyptische Frühkultur, die noch über lange Zeit von der Steinbearbeitung und dem Kupfer, später der Bronze bestimmt wird, knüpft auch daran an. Noch mehr geht die handwerkliche Entfaltung in Bearbeitung von Stein und Knochen, wie wir heute wissen, bis tief in die jüngere Altsteinzeit zurück. Hier differenzieren sich bereits die kulturellen Richtungen, und die ägyptische Kultur knüpft an bestimmten von ihnen an.
Die ägyptische Kultur weist über Oberägypten deutlich afrikanische Einflüsse auf, andererseits ist unzweifelhaft, daß schon in der "Vorgeschichte" Ägyptens, in der Zeit der "Negade-Kulturen" [11], Einflüsse aus dem heutigen palästinensischen und mesopotamischen Gebiet gekommen sind. Die Entwicklung der Zeit von ca. 3200 bis 2700 vor Chr., also der Entwicklung der Reichseinigung bis zu dem ersten Höhepunkt der Zeit der Pyramiden im Alten Reich, ist insgesamt eine Epoche radikalen Umbruchs, die sowohl politisch und kulturell als auch von der Seite der technischen Entwicklungen her das Leben umänderte. Mit der ersten Dynastie etwa 3000 bildet sich ein einheitliches Reich heraus. Schließlich muß noch eine These beachtet werden, die den Einfluß der wesentlich älteren archaischen Kultur in dem Gebiet der heutigen Sahara-Wüste betrifft. Etwa 6000 vor der Zeitrechnung bestand diese Kultur noch, als dieses Gebiet noch wasserreich war. Mit der Verwüstung auf Grund von klimatischen Wandel zogen sich die Menschen in die verbliebenen Wasserzonen zurück, also auch in das Niltal.[12]

Es kommen also eine ganze Menge Faktoren zusammen, die die "kulturelle Explosion" in Ägypten nach der Zeit von 3100 möglich gemacht haben. Die Verschmelzung verschiedener kultureller Faktoren, aber auch günstige Bedingungen, sich im Niltal und –delta in der Auseinandersetzung mit der Natur zu steigern und zu einem gesellschaftlichen Reichtum zu gelangen, sind ausschlaggebend.
Zum einen entstand eine einheitliche Kontrolle bei der Wasser- und Agrarwirtschaft, einheitliche Gesetzgebung und Landvermessung, aber es ist nicht nur dies, daß sich durch Zentralisation der früheren Häuptlingspositionen zu einer umfassenden Despotie eine damals progressive staatliche Form entwickelt. Es besteht von der Basis her auch eine soziale Organisation bei der Beherrschung der Wasserwirtschaft. Die systematische Ausnutzung der Nilüberschwemmungen und der daraus entstehenden Möglichkeit einer landwirtschaftlichen Überproduktion bedeutete vor allem auch soziale kollektive Organisation der Menschen, die den Haupttrumpf Ägyptens bildete. Ferner ziehen diese Faktoren die Entwicklung der Wissenschaften nach sich, Landvermessung, dann Architektur erleben einen noch nicht gekannten Höhepunkt. Die Priester der Schule von Heliopolis (bibl. On) sind zugleich die führenden Mathematiker und Astronomen in der Gesellschaft, die ehrgeizige Projekte entwickeln.

An dieser Stelle müssen wir nun einen Sprung machen. Die gesamte Geschichte Ägyptens kann ich hier auch nicht in der kürzesten Form abreißen. Ägypten entwickelt sich in dieser Form weiter bis zur Entstehung des Neuen Reichs 1400 Jahre später. Zweimal ist inzwischen Ägypten von sozialen Unruhen schwer erschüttert worden, der soziale Klassenkampf zeigt sich auch hier, in der bürokratischen ägyptischen Gesellschaft. Das Reich bricht als Einheitsstaat auseinander und ausländische Eroberer ergreifen die Macht. Man spricht von den beiden Zwischenzeiten. Nach der ersten wie nach der zweiten Zwischenzeit ergreift das Fürstenhaus Theben die Initiative und schafft von seinem Sitz aus erneut die Vereinheitlichung des Reiches.

Wie bereits dargelegt, erlebt Ägypten nach der zweiten Zwischenzeit eine neue, noch nicht gekannte Blüte im Neuen Reich. In dieser Epoche tritt Ägypten als imperiale Großmacht auf, und es wird selbst herausgefordert von anderen Großreichen, die im Gebiet Palästina mit Ägypten rivalisieren. Die weltweiten Verbindungen wie auch die Kriege, die Ägypten weit außerhalb führen muß, führen zu einer Erweiterung des intellektuellen Horizontes. In Ägypten fließt neben dem Reichtum aus der eigenen Produktion ein unerhörter Reichtum aus anderen Ländern zusammen. In Ägypten selbst hält endlich auch die Eisenzeit Einzug, die ausgehend von Kleinasien in anderen Regionen bereits eingetreten ist. Obwohl die ägyptische Gesellschaft weiterhin aus ihrer eigenen Entwicklungsdynamik schöpft, auf Grund ihrer langen Geschichte selbst über starke innere Antriebskräfte verfügt, so internationalisiert und modernisiert sie sich gleichzeitig. Das ist die Verbindung, die die außergewöhnliche Epoche der 18. Dynastie und schließlich Echnaton möglich macht.

Die Richtung des Echnaton, die zunächst einmal als singuläres Phänomen erscheint, ist keineswegs das Ergebnis der persönlichen Haltung eines Pharao, in der ägyptischen Gesellschaft haben sich radikale Änderungen vollzogen und Widersprüche entwickelt. Die Schule von Heliopolis, die an die oben beschriebene frühe Phase der ägyptischen Geschichte (Pyramidenbauer) anknüpft, gilt als eine treibende Kraft bei den Veränderungen, die mit Echnatons Namen verbunden werden. Überhaupt müssen wir uns von der Vorstellung verabschieden, daß diese Veränderungen Produkt einer kleinen Gruppe von Potentaten „von oben herab” sind. Die Geschichte lehrt, daß solche führenden Mitglieder eines Königshauses manchmal die Strömungen, die sich unter der Hand entwickelt haben, aufgreifen und in ihre persönliche Initiative umwandeln, manchmal ihnen auch ein besonderes Gepräge geben.

Die Entwicklung eines mächtigen internationalen und internen Handels, wie ein Aufschwung des Handwerks kennzeichnen das Neue Reich der 18.Dynastie. Es bilden sich neben den alteingessenen Beamten, den traditionellen Familien neue emporkommende Schichten, wenn man so will, Vorläufer des Bürgertums. Unter dem Vater Amenhotep III. bricht bereits die neue Strömung hervor, dieser selbst tritt auch äußerlich aus den Traditionen aus, heiratet keine "Schwesterfrau", wie es bei den Pharaonen vorgeschrieben ist (Erhalt der alten Blutsbandebeziehungen der Vorgeschichte!), sondern eine solche ”Bürgerliche”, Teje, die selbst zu den bekanntesten Frauengestalten des alten Ägypten gehören wird.
Die größte Macht in Ägypten hat seit langem die Amunpriesterschaft, die etwa seit dem Mittleren Reich, also auch schon seit Tausend Jahren eine dominante Rolle spielt. Sie repräsentierten die alten Natur- und Totemgötter, unter denen sich Amun als der Erste herausprofiliert hat. Diese Priester vertreten zugleich mit ihren riesigen Tempelländereien und ihren Verbindungen mit dem alten Beamtenwesen das konservative Element Ägyptens. Sie repräsentieren das Alte und bereichern sich zugleich an den neuen imperialen und internationalen Entwicklungen. Es kommt zwischen diesen alten Kräften und den neuen zum Kampf, dessen Ausdruck Echnaton und seine Frau Nofretete werden.

Echnaton unterdrückt ab dem 4. Jahr seiner Herrschaft die Amunpriesterschaft, läßt deren Tempel abreißen. Aber wichtiger noch ist, daß ein neuer Kult geschaffen wird, der ein neues Herangehen an die Welt verrät. Die gesamte Götterwelt der Hunderte von Totemgöttern, oft halb Tier, halb Mensch, wird abgeschafft, und an die Stelle der ausschließliche Kult um die Sonnenscheibe Aton eingeführt. Es ist eine Art naturalistischer Monotheismus, der hier erstmalig eingeführt wird. Der neue Kultus öffnet das Denken hin zur Bewältigung der Natur und zur Bewältigung des tatsächlichen menschlichen Lebens. Die Kunst stellt auf einmal das alltägliche Leben der königlichen Familie dar. Auch etwas durchaus Neues: Die Königin Nofretete ist selbst eine der ersten politischen Verfechter dieser Neuerungen. Sie selbst nimmt aktiven Anteil an dem politischen Kampf.
Das bekannteste Dokument dieses Kultus ist der sog. Sonnengesang, der dem Echnaton selbst zugeschrieben wird, der wirklich ein einzigartiges Dokument einer neuen vorwärtsweisenden Weltanschauung ist. Viele Autoren, die sich mit der Amarna-Periode befassen, bezeichnen Echnatons Lehre als einen Vorgriff auf die Aufklärung, das heißt auf Ideen des 18. Jahrhunderts! Echnaton ließ das gebräuchliche Neuägyptische zur Schriftsprache erheben, eine ganz wesentliche Maßnahme für das Leben des Landes. Allerdings zentralisierte er die gesamte politische und religiöse Macht in seinen Händen, was in der Auseinandersetzung mit der Theokratie von Bedeutung war.
Die Periode Echnaton dauert aber nur 17 Jahre, die ganze Amarna-Epoche zusammen mit seinen Nachfolgern nur etwa 35 Jahre. Der Bruch erfolgte abrupt, er erfaßte soweit bekannt nur die Oberschicht und die Mittelschicht. Die bäuerlichen Massen hatten diese Neuerungen nur geringfügig erreicht. Schließlich gibt es Hinweise, daß bereits in der Regierungszeit Echnatons Abstriche gemacht wurden und es zu Zerwürfnissen innerhalb der neuen Richtung kam. Die alten Elemente mußten sich auch in den eigenen Reihen wieder zeigen, man hatte kaum eine Massenbasis, alles das bot Angriffsfläche für die Gegenreaktion. Unter den Nachfolgern beginnt die Umkrempelung, der zweite Nachfolger, Tut-Ench-Aton, muß als Kind bereits wieder den Namen Tut-Ench-Amun annehmen.
Bei der heftigen Auseinandersetzung um die Wertschätzung Echnatons wird von einer Reihe der Autoren aus dieser Entwicklung heraus abschätzig geurteilt, Echnaton habe willkürlich gehandelt und habe letztlich versagt. Aber daraus kann man ihm natürlich keinen Vorwurf machen, denn man kann schwerlich von einem Menschen des 14. Jahrhunderts vor Chr. erwarten, daß er über Hegelsche Dialektik oder auch nur über die philosophische Methodik eines Descartes oder die Entwicklungslehre verfügen würde.

Schließlich ergreift der Militärusurpator Haremheb die Macht und beginnt, die alte Macht vollständig zu restaurieren. Das leitet zur nächsten Dynastie über. Er und seine Nachfolger versuchen, diese gesamte Epoche radikal aus dem Bewußtsein auszumerzen. Die Anlagen dieser Epoche werden geschleift und zerstört. Die Staatschronologie läßt den Beginn der Regierungszeit des Haremhab mit dem Ende des Amenhotep III. zusammenlegen, das heißt die Staatsbürokratie und die wieder zur Macht gelangte Priesterschaft lassen die Periode Echnaton – Nofretete für nicht existent erklären, und behandeln sie auch so.
Das heißt, diese Epoche wurde dem Vergessen verordnet, und ihre steinernen Dokumente müssen verschwinden. Hinter einer solchen Verordnung verbirgt sich natürlich ein Verbot, eine strikte Anweisung über eine bestimmte Sache überhaupt noch zu reden. Und dieses Verbot läßt auch Rückschlüsse zu. Es drückt aus, daß man es mit einer Strömung zu tun hatte, deren Wiederaufkommen man zu fürchten hatte, und deshalb mußten Maßnahmen her.

Das Buch von Erik Hornung "Echnaton" [13] ist eine sehr bekannte jüngere Veröffentlichung zu diesem Thema. Es ist in der Darstellung der verschiedensten Meinungen und der Entwicklung der Auseinandersetzung über diese Geschichtsepoche ein interessantes Kompendium. Aber es gibt auch eine Reihe von kurzgeschlossenen Urteilen, die angezweifelt werden müssen.

”Wie kam es zu diesem totalen Vergessen? Echnatons Revolution ist nicht gewaltsam untergegangen. Man schritt über sie hinweg zu neuen Ufern, man vergaß sie einfach, auch wenn sie in Unterströmen weiter fortwirkte. Früher galt König Haremhab als der ,Liquidator’ der Amarnazeit, aber es scheint, daß erst Sethos I. und Ramses II. sich aktiv gegen Echnaton und seine unmittelbaren Nachfolger gewandt haben”

Und weiter:

„Es gab keine Märtyrer der neuen Religion, es gab nicht einmal einen Anlaß, sie zu verfolgen, denn sie hat Echnaton nur um wenige Jahre überlebt. Was folgte, war totales Vergessen, nach einer kurzen, vagen Erinnerung an den ,Frevler von Achetaton’.“(S.13)

Das ist doch eine ganz unwahrscheinliche Darstellung. Woher will denn der Autor das überhaupt wissen? Es ist nicht damit zu rechnen, daß die späteren Gegner in steinernen Dokumenten irgend etwas über Anhänger der neuen Richtung niederlegten.
Es ist eine Verharmlosung der Gegensätze, die außer Acht läßt, daß hier zwei Seiten gegenseitig mit Repression vorgingen. Echnaton konnte trotz seiner Pharao-Stellung seine „Reform” nicht ohne weiteres durchsetzen, sondern mußte dem entschiedenen Druck der alten Kräfte entgegenwirken, die nun einmal auf Grund ihrer bald tausendjährigen führenden Stellung ein Machtfaktor blieben.
Eine solche Richtung wie die von Echnaton war nicht das Ergebnis einer einzelnen Person, sondern sie war aus den Notwendigkeiten der Epoche heraus geboren. Also konnten mit der politischen Überwindung derselben die gesellschaftlichen Kräfte, die sie hervorbrachten, auch nicht vollkommen verschwinden. Die von dem Autor vorgebrachte Schlußfolgerung wird nicht ohne politischen Bezug auf die uns hier beschäftigende These vorgebracht.

Um 300 vor Chr., also ganze tausend Jahre später, erstellte der Historiker Manetho, ein Priester, eine Chronologie der ägyptischen Pharaonen, und er beschreibt, daß in dieser Epoche Aussätzige und Hyksos (ausländische Eroberer der zweiten Zwischenzeit) Ägypten regiert hätten. Noch zu dieser Zeit also die schroffe Reaktion! Die Richtung aber mußte sich auf Zehntausende von Anhängern und Aktivisten gestützt haben, wo sind sie hin? Wurden sie alle gemordet oder „gewendet", um einen neuen Ausdruck zu gebrauchen? Die Ereignisse in Ägypten müssen zahllose der intellektuell entwickeltsten Menschen in ihrer Seele aufgerührt haben, der Zusammenbruch muß zu schweren Enttäuschungen geführt haben. Die Steine und Bauzeugnisse konnte man vernichten, nicht aber die Auswirkungen in den Köpfen. Die nachfolgende 19. Dynastie, die sog. Ramessiden, verkörpern zwar die Reaktion, müssen aber trotzdem viele der Ideen auch in der Kunst trotz Rückgehens auf den traditionellen Stil übernehmen. Sie lenken in Richtung äußerer Eroberung ab, auch das ein Vorgehen, das in der Geschichte nicht unüblich ist.
Hat diese Richtung auch Auswirkungen auf das Judentum gehabt, das zu dieser Zeit durch Stämme in Ägypten weilte? Immerhin datiert man seit langem die Epoche Mose auf die Zeit um 1250 v.C., diese Ereignisse aber lagen um 1340. Und Mose trägt nicht nur einen der häufigsten ägyptischen Namen, er stammt auch aus Ägypten. Deshalb ist die Frage nach einer Verbindung ganz logisch.
Diese Frage wird eben von den Historikern und Archäologen fast so lange man sich mit Amarna befaßt gestellt.
Schon Eduard Meyer kam in seinem Buch zu der Schlußfolgerung:

”In der eigentlichen Religion, Götterglaube und Kultus, vermag ich nirgends ein ägyptisches Element zu entdecken; dazu waren die Lebensverhältnisse und die auf ihnen beruhenden Anschauungen zu verschiedenartig. Daher gibt es auch keinen größeren Gegensatz als zwischen dem pantheistischen , in zahllosen Namen und Gestalten auftretenden Mysteriengott der ägyptischen Kultur und dem streng persönlichen Gott der Semiten und speziell Israels, zwischen dem solaren Monotheismus Chuenatens und dem exklusiven Jahwe der Propheten. Wer hier Entlehnungen sucht, kennt weder die ägyptische noch die israelitische Religion.” [14]

Zunächst einmal sehen wir hier, daß es schon 1906 eine Diskussion über den uns berührenden Punkt gegeben haben muß. Und seitdem ist diese Erwiderung immer wieder gegengehalten worden. Sie übersieht schon mal eines: Wenn diese Traditionen durch einen Exodus mit längerer Wanderschaft und Überlagerung anderer Gruppen übertragen worden sind, dann muß man davon ausgehen, daß dieser Einfluß sich nur in einigen Prinzipienelementen hat halten können. Man kann nicht erwarten, daß der Aton-Kult, so wie er in Ägypten existierte, sich in irgendeiner Aton-Sonnenscheibe wieder zeigt. Schon die Verschmelzung eines oder weniger Ägypter mit einem Zug von einigen Tausend Israeliten muß zu erheblichen Konzessionen führen. Dann werden im Laufe von Jahrzehnten und Jahrhunderten die Riten und Denkweisen von der Bevölkerungsmehrheit weiter angepaßt. Sie müssen schon Essentielles bieten, damit sie überhaupt in bestimmten entscheidenden Punkten erhalten bleiben.

Nehmen wir, um einen Punkt der Gemeinsamkeit zu demonstrieren, ein anderes sehr frühes Werk über dieses Thema, das Buch von Weigall ”Echnaton” von 1910, das heute ebenso wie die epochemachenden Werke von Breasted oftmals angefeindet wird.[15] Weigall versucht Gemeinsamkeiten zwischen dem Judentum und der Amarnareligion zu erfassen. Ganz im Gegensatz zu der gesamten vorherigen ägyptischen Religion spielt das „Jenseits” in dem Atonkult faktisch keine Rolle. Bei dem alten ägyptischen Kultus wird alles auf das Jenseits ausgerichtet. Nicht nur, daß alles was Rang und Namen hat, sich aufwendige Ausstattungen für das „Jenseits” leistet, in dem gesamten Denken spielt es eine wichtige Rolle. - Und bei dem Judentum ist es ein hervorstechendes Merkmal, daß es sich mit dem Jenseits nicht befaßt. Frage also, bei welcher weiteren Religion des Mittleren Osten spielt es keine oder nur eine ganz nebensächliche Rolle, sodaß sie als ein Wegbereiter in Frage kommen würde? Ein weiterer unmittelbar auffälliger Punkt ist die Tradition der Beschneidung bei den Juden. Hier herrscht große Einigkeit darüber, daß diese ägyptischen Ursprungs ist.
So einfach kann man die Diskussion um diese Punkte nicht abtun. Es stellt sich die Frage, ob hier verschiedene historische Zweige ihr Urteil danach ausrichten, welchen Wirbel und welchen Widerstand bestimmte Thesen hervorrufen würden. Obwohl die Diskussion von bestimmten Historikern und Ägyptologen einfach abgetan wurde, so flackerte sie doch immer wieder auf. Zuletzt noch einmal deutlich in den letzten 10-15 Jahren. Zitieren wir hier einmal Klaus Koch:

”Hat die in Ägypten schnell untergegangene Atonreligion anderswo, nämlich in Israel, Nachfolge gefunden? Seitdem die Archäologen Amarna und Echnaton wieder entdeckt haben, will der Verdacht nicht verstummen, daß die auf die ausschließliche Verehrung eines Gottes und Schöpfer ausgerichtete Religion der Bibel vom ägyptischen Ketzerkönig abkünftig sei. Der israelitische Monotheismus wird traditionell mit Mose verbunden. Wird dieser nicht als Offenbarer berufen, als er und seine Volksgenossen gerade in Ägypten sind? Trägt er nicht einen typisch ägyptischen Namen und soll von einer Pharaonentochter erzogen worden sein? ,Mose’ heißen viele Ägypter, das Wort meint ,der vom Gott X Geborene‘, vergleiche Königsnamen wie Thutmose. – So verlockend eine solche Verbindung auf den ersten Blick erscheint, sie führt in die Irre. Mose kündet seinen Landsleuten einen Berggott aus der südlichen Wüste, den Jahwä von Sinai, als die allein entscheidende Macht; um die Sonnenscheibe und ihre belebende Wirkung kümmert er sich dabei nicht. Nichts, aber auch gar nichts in der biblischen Exodusüberlieferung weist Züge auf, die sich auch in der Religion Echnatons finden. Irgendein Übergang vom ägyptischen Ketzerkönig zum proisraelitischen Charismatiker Mose ist historisch also nicht nachzuweisen.” [16]

Der Autor hat noch nicht einmal Kenntnis von der Argumentation, wie sie in der Religionswissenschaft entwickelt worden ist. Kann man denn die Überlagerung, die immerhin als These längst entwickelt worden ist, einfach ignorieren? Das fällt noch hinter dem, was seit hundert Jahren entwickelt worden ist, zurück. Von dem midianitischen Mose, von dem Zusammenschluß mehrerer Komponenten, hat er noch nie etwas gehört, obwohl Fachwissenschaftler? Man muß wohl annehmen, er wollte nichts davon wissen.


Nimmt man allerdings diese Hypothese weg, geht man davon aus, daß es diese ägyptische Verbindung nicht gab, dann allerdings bleiben meiner Ansicht nach eine Reihe grundlegender Punkte in der Erklärung offen. Die Thesen einer Verbindung mit der ägyptischen Kultur und insbesondere mit der revolutionären Umwälzung in der 18. Dynastie sind daher keineswegs einfach abzutun.
Für Freud war die Befassung mit dieser Thematik so wichtig, weil er darin ein Mittel zur Erklärung der Entwicklung des Judentums und sogar zu seiner Erneuerung sah. Deshalb investierte er so außerordentliche Anstrengungen über Jahre dahinein.
Auf die unterschiedliche Stellung dieser historischen Schrift zu Freuds übrigem Werk ist schon hingewiesen worden. Allerdings wenn man sein III. Kapitel durchsieht, dann erkennt man, daß er hier Verschiedenes für seine psychologische ”Urvatertheorie”[17] zurechtmodelt. Das sind interessante Details. Trotzdem ist wichtig, daß Freud hier in seiner Theorie die gegensätzlichen Seiten innerhalb des Judentums selbst entwickelt. Die „ägyptische Hypothese” dient ihm dabei zur Erklärung. Wie schon dargestellt, ergibt sich der Widerspruch bereits aus dem Pentateuch, denn dort werden mindestens zwei und zwar sehr gegensätzliche Mose übereinandergeschrieben. Ich nenne das die Entwicklung des Widerspruchs des Judentums, der eine Fülle weiterer Erscheinungen erklärt.
Wir müssen uns doch mit folgender Frage befassen: wie kommt es, daß im Judentum der höchste Anspruch, Segen aller Völker zu sein, neben dem steht, der die profanste Ausnutzung anderer als “höchstes” Leitprinzip verkündet. Das Judentum spielt bei der Herausbildung der grundsätzlichsten kulturellen Elemente der westlichen Hemisphäre eine fundamentale Rolle, läßt sich gar nicht wegdenken, und weist andererseits selbst Elemente auf, die auf eine völlige Diffamierung und Verächtlichmachung anderer Nationen hinauslaufen. Das führt auch zu der Erfassung der rechten Strömungen, des Antisemitismus, der nur das letztere sich aus dem Judentum herausgreift und nun umgekehrt die Verächtlichmachung des Judentums benutzt, um zugleich die gesamte Zivilisation anzugreifen. Es ist kein Zufall, daß die radikalste Ausprägung dieser Richtung, der sog. „Nationalsozialismus”, in dem faktischen und tatsächlichen Kannibalismus endete. Dies bedeutete den Angriff auf die Zivilisation überhaupt, die Verbindung von moderner Technik mit der primitivsten, selbstmörderischen Stammesideologie.

Und andererseits, als Freud seine Arbeit veröffentlichte, schlug ihm ein Schwall des Hasses gerade aus dem Judentum selbst entgegen. Der Autor Peter Gay [18] beschreibt in seinem Buch über Freud die Reaktionen [19] , die soweit gingen, daß ein anonymer Briefeschreiber sein Bedauern ausdrückte, daß die Nazis gegen Freud nicht vorgegangen seien. Das Buch polarisierte von Anfang an, so wie zuvor schon die Aufdeckung der Gestalt des Echnaton und seiner Richtung die Meinungen polarisierte.
Auch die Stellungen, die seitdem vor allem nach dem 2.Weltkrieg von Seiten der Ägyptologie entwickelt wurden, bedürfen einer Überprüfung. Neben den Beispielen, die schon erwähnt wurden, wären hier noch weitere zu benennen. Das Buch von Hornung, das oben zitiert wurde, stellt ein wirklich modernes und interessantes Kompendium dar. Vieles, was darin als Fakten und Belege steht, überzeugt aber gar nicht dahingehend, daß es keinerlei Verbindung zu späteren Entwicklungen wie der des Judentums gegeben haben soll. Ein weiterer bekannter Ägyptologe, Jan Assmann, hat ein umfangreiches Buch “Moses –Der Ägypter” mit einer unglaublichen Fülle von Material verfaßt, das vieles zugleich offen läßt, aber dennoch eine ablehnende Stellung erkennen läßt. Dies in der Tat bildet ergiebiges Material darüber, wie diese Streitfrage behandelt wird. Zu erwähnen wäre schließlich noch Rolf Krauss, der ein regelrechtes Kampfbuch gegen die obengenannten Thesen geschrieben hat. Dabei will ich es in diesem Rahmen belassen.

Die Analyse und Entschlüsselung des Judentums, welche hier erfaßt ist, ist selbst ein Ansatz zur Kulturrevolution, zumindest überall da, wo das Judentum oder das Christentum oder der Islam eine bedeutende Rolle spielten oder spielen, und das ist in sehr vielen Bereichen auf der Welt der Fall.

- - - - - - - -

Mit dieser Darlegung habe ich versucht, zunächst eine Übersicht zu geben. Sie gibt einen Rahmen für eine Reihe von geplanten Einzeldarlegungen über die Geschichte. Früher hat man oft ein Buch langwierig vorbereitet, ich kann mir aber nicht Jahrzehnte für eine solche Arbeit nehmen, viel zu unruhig sind die Zeiten. Da ich durch meine politische Arbeit gebunden bin, kann ich nur nach und nach die einzelnen Themen erläutern. Die Offenlegung des Ziels der Darlegungen ermöglicht auch eine Rückkopplung in Form von Diskussion und Hinweisen, die bei der nächsten Stufe der Darlegung dann schon wieder berücksichtigt werden können.

11. Mai 2003

 

Geschrieben von Juni 2002 bis Frühjahr 2003


© Copyright Hartmut Dicke, 2003 Berlin und Dortmund, Alle Rechte vorbehalten, private Weitergabe unter Angabe des Impressums erlaubt, jede kommerzielle oder sonstige professionelle Verbreitung oder öffentliche Plazierung ganz oder in Auszügen bedarf der ausdrücklichen schriftlichen Genehmigung des Autors. Verlinkung gestattet und erwünscht.

A2   


[1] Hethiter
Die Hethiter sind ein von dem allgemeinen Geschichtswissen her weniger bekannte Völkergruppe, die vor allem in dem Gebiet des heutigen anatolischen Hochlandes gelebt haben. Sie traten in dem 2. Jahrtausend plötzlich mit großer Machtentfaltung auf. Nach relativ kurzer Zeit konnten sie sich mit dem schon seit langem bestehenden ägyptischen Großreich messen. Sie sprachen eine indoeuropäische Sprache in verschiedenen Dialekten, die teilweise mit dem Lateinischen recht eng verwandt sind. Auffällig ist der frühe Gebrauch des Eisens in ihrer Kultur.

zum Text      

[2] Champollion, Jean-Francois, (1790-1832) entzifferte als erster über die Annahme, daß das Koptische eine Weiterentwicklung der altägyptischen Sprache sei, die ägyptische Hieroglyphen auf dem Stein von Rosette vollständig. Dieser Stein war bei militärischen Bauarbeiten der Armee Napoleons in Ägypten 1799 gefunden worden. Er enthielt in Griechisch, hieroglyphisch und demotisch (ägyptische Umgangssprache) parallel einen längeren Text.
[3] Die Antisemiten übrigens hatten mit dieser Forschungstätigkeit nichts im Sinn. Sie brauchten das Judentum als einen Popanz, als einen Blitzableiter, weil sie in Wirklichkeit gegen die moderne Gesellschaft und erst recht gegen die modernen Wissenschaften sind. Das rationale Weltbild ist ein Feindobjekt aller dieser Richtungen. Es gehört zur Wissenschaftlichkeit, daß man möglichst alle Seiten einer Sache erfaßt, daß man versucht, eine Entwicklung in ihren materiellen Wurzeln zu erklären.
[4] Ilse Grubrich-Simitis, "Freuds Moses-Studie als Tagtraum", Ein biographischer Essay, Fischer TB, 1994
[5] In der 18. Dynastie stieg Ägypten zu einer internationalen Macht auf. Unter Thutmosis I. erreichte Ägypten erstmalig den Euphrat und lernte eine andere Hochkultur und Flußkultur kennen, die der ägyptischen ebenbürtig war.
[6] Die midianitischen Quellen des Alten Testaments sind seit langem bekannt, am ausführlichsten in einem bekannten Werk von Eduard Meyer dargestellt.
[7] Qadesch-Maribat, Ort im südlichen Palästina, an dem eine Art Vereinigungskonferenz mit einem religiösen Kompromiß stattgefunden haben soll
[8] "Der Mann Moses und die monotheistische Religion", Fischer TB, 1.Auflage 1975, seitdem mehrfach aufgelegt, S.61/62, Hvhg. im Original
[9] In der Geschichte von Isaac „befiehlt Gott” Abraham, seinen Sohn zu opfern, als Abraham seine Bereitschaft dazu bekundet, verzichtet der gleiche Gott auf dieses. Das Ende des Menschenopfers ist beschlossen.
[10] Arthur Weigall, "Echnaton –König von Ägypten und seine Zeit", Originalausgabe englisch, 1910, deutsche Übersetzung 1923, Basel, Schweiz
[11] Negade-Kulturen, Negade oder Naqada, Dorf nördlich von Karnak, Fundstätte von über 3000 Gräbern, aus denen sich die Entwicklung im 4.Jahrtausend über mehrere Dutzend Stufen verfolgen läßt. Man unterscheidet Negade I und Negade II
[12] Walther Wolf, "Die Welt der Ägypter", Cottasche Buchhandlung, Stuttgart, 5.Aufl.1962, 1.Aufl.1954, S.13
[13] Erik Hornung, "Echnaton – Die Religion des Lichtes", Artemis und Winkler, Zürich 1995
[14] Eduard Meyer, "Die Israeliten und ihre Nachbarstämme", 1906, S.449
[15] In der Tat unterlag Weigall in diesem Buch einem Irrtum, weil er der damals verbreiteten Meinung unterlag, man habe Echnatons einbalsamierten Körper gefunden. Dies stellte sich später als Irrtun heraus. Das stellt aber nicht andere durchaus erwähnenswerte Einschätzungen in Frage.
[16] Aus Klaus Koch, "Geschichte der ägyptischen Religion: von den Pyramiden bis zu den Mysterien der Isis", Kohlhammer, 1993, S. 348f.
[17] Urvatertheorie
Eine der Hypothesen von Freud, nach der in der Urhorde ein Urvater existiert hat, der die anderen männlichen Vertreter beherscht hat, die Frauen monopolisiert. Schließlich überwältigen die “Söhne” den Urvater und beseitigen ihn. Von Freud wird dies als Verbrechen bezeichnet, das er zugleich als Beginn der menschlichen Kultur apostrophiert. Es handelt sich um ein äußerst primitives Modell der menschlichen Urgesellschaft, für das es entsprechend auch keinerlei Nachweis gibt. Etwas anderes ist es vielleicht, wenn man es als ein gewisses abstraktes Schema für Abläufe innerhalb bestimmter früher gesellschaftlicher Formen nimmt.
Es ist bestechend, wie sich diese von Freud hingeworfenen Thesen der “Psychoanalyse” von den immer wieder durchdachten historischen Thesen zur Entwicklung des Judentums unterscheiden. Dieser Gegensatz wird innerhalb der Schrift “Mann Moses” deutlich, da das letzte Kapitel dann zur Anwendung der sogenannten “Urvatertheorie” übergeht.
[18] Peter Gay, ",Ein gottloser Jude‘- Sigmunds Freuds Atheismus und die Entwicklung der Psychoanalyse”, 1987 amerikanisches Original, Yale University Press, dt. S.Fischer Verlag, Ffm 1988
[19] ”Das Buch rief überall in jüdischen Kreisen einen Proteststurm hervor. Freud wurde von Kritiken und einer wahren Lawine von Briefen überschüttet, die meisten von Fremden, die ihn für die Ungeheuerlichkeit, die er begangen, zur Rechenschaft ziehen wollten.” s.106f, ebenda

© Hartmut Dicke

 

www.neue-einheit.com