Internet Statement 2006-29

 

Die Fragen zu Tschernobyl bleiben - Sie müssen geklärt werden

22.April 2006            

 

20 Jahre nach der Katastrophe von Tschernobyl existiert weltweit eine umfangreiche Literatur zur Analyse dieser Reaktorschmelze. Es ist unbestritten, daß durch manipulative Eingriffe in diesen Reaktor vom Typ RBMK[1] diese Katastrophe ausgelöst wurde.

Über lange Zeit war über diese Eingriffe in der Öffentlichkeit nicht gesprochen worden, vielmehr hat man diese Katastrophe als ein unvermeidliches Ergebnis der Unzulänglichkeit von technischen Anlagen im allgemeinen darzustellen versucht. Dabei sind die politischen Umstände, die mit Tschernobyl verbunden sind, derart schlagend, daß man bei der Beurteilung dieser Katastrophe auf keinen Fall die Fragen nach den Hintergründen zweitrangig behandeln darf.

 

Bereits im Sommer 1986 erschien ein Bericht des „Staatskomitees der UdSSR für die Nutzung der Kernenergie“, der Einzelheiten über die Katastrophe veröffentlichte. Dieser Bericht warf um so mehr die Frage auf, wie die geschilderte fragwürdige Versuchsreihe in dieser Form hatte überhaupt vorgenommen werden können. Zum 10. Jahrestag 1996 gab unsere Organisation eine Zusammenfassung der damaligen sich aufwerfenden hauptsächlichen Erkenntnisse und Fragen heraus. Diese Darstellung hat fast nichts an ihrer Aktualität eingebüßt. Die Fragen von damals existieren auch heute. Und die späteren ausführlicheren Berichte, etwa der Gesellschaft für Reaktorsicherheit, die die Mängel in der Konstruktion des RBMK nun weitaus detaillierter beschrieben, setzen die Kenntnisse, die aus dem ersten Bericht des Staatskomitees der UdSSR resultierten, nicht außer Kraft, sondern stützen sie sogar.

 

Die Publikationen über den Typus RBMK, von dem heute noch eine Reihe von Reaktoren in Litauen, Rußland und der Ukraine weiterhin Strom erzeugen, haben in der Tat einige konstruktionsmäßige Schwachpunkte zur Sprache gebracht, die für einen solchen operativen Eingriff mit solch katastrophalen Folgen gute Voraussetzungen boten. Mehr noch: im Jahre 1975 war es bereits zu einem schweren Zwischenfall bei einem Leningrader Reaktor gleichen Typus gekommen, der Erkenntnisse über die Schwachpunkte dieses Reaktortyps in der Sowjetunion den zuständigen Stellen, der Regierung, den Geheimdiensten usw. zugänglich gemacht hatte.

Bis heute ist unklar, wie eine Mannschaft, die obendrein kaum Erfahrung hatte, fragwürdige Versuche starten konnte, dabei auch noch die Vorschriften für den Versuch selbst mißachtete und so den Reaktor in eine solche Lage gebracht hat, die dann zur Katastrophe führte. Dies kann man nicht allein nur mit menschlichen Versagen erklären, dies wirft weitergehende Fragen auf.

 

Die neuere Literatur über den Tschernobyl-Vorfall bringt viele Einzelheiten über die Katastrophe, etwa. über die untauglichen Steuerstäbe, die eine glatte Fehlkonstruktion waren und den Unfall begünstigten, und sie zeigt auf, wie in den folgenden Jahren, auch mit Hilfe ausländischer Technik, viele Mißstände an den RBMK-Anlagen zumindest entscheidend gemindert wurden. Aber bei dieser Feststellung wirft sich eine ganz andere Frage auf: wie kann es denn sein, daß die  Ingenieure und Wissenschaftler aus diesem Land ihre Energie darauf verwenden, bspw. diese RBMK-Anlagen zu verbessern - was an und für sich keine schlechte Sache ist -, während sie gleichzeitig Bedingungen im Land vorfinden, die einem faktischem Forschungs- und Betätigungsverbot auf diesem Sektor gleichkommen? Warum dürfen sie eigentlich keine neuen Anlagen mit viel besseren Voraussetzungen entwickeln? Diese Frage müßte in all dieser Literatur aufgeworfen werden, daran  kann man doch nicht vorbeigehen.

Dies führt zu der Frage: was bedeutete eigentlich die Tschernobyl-Kampagne in Deutschland? Vom 30.April 1986 bis in den Herbst des Jahres beherrschte Tschernobyl alle Medien und alle öffentlichen Diskussionen mehr als jedes andere Thema. In diesem Land war diese Kampagne, daß die Kernenergie uns alle bedrohe, stärker entfaltet worden, als irgendwo sonst. Es gibt keine große Tschernobyl-Kampagne in Rußland, auch nicht in der Ukraine, auch nicht nach 1990, aber es gibt eine Tschernobyl-Kampagne in Deutschland, in dieser Form nur in Deutschland. Nur in diesem Land wurde auf die Stillegung der Kernenergie hingearbeitet, mit einigen Seiteneffekten auf andere Staaten in der engeren Nachbarschaft der Bundesrepublik Deutschland.

 

Wieso führt ein Unfall in Tschernobyl mit katastrophalen Folgen in der Ukraine, in Weißrußland, in Rußland selbst, zu einer Kampagne in Deutschland gegen die Kernenergie? Und diese Frage kann man nur politisch beantworten.

 

Sie ist schon lange vorgezeichnet, seit den siebziger Jahren, denn während damals in der Sowjetunion die technische Entwicklung vorangetrieben wurde, mit Reaktoren mit Lücken an entscheidenden Sicherheitsstellen, wurde von der Sowjetunion selbst eine Anti-AKW-Kampagne in Deutschland mitunterstützt. Schon 1976 war dies augenfällig, und es blieb so. Die DKP war von Anfang an in diese sogenannte „Bürgerrechtsbewegung“ involviert. Unsere Organisation hat wieder im Jahre 1986 auf diesen frappierenden Punkt hingewiesen, und wir haben darauf erneut im Jahre 1996 hingewiesen, und man muß im Jahre 2006 noch einmal darauf hinweisen. Die Sowjetunion arbeitete dabei zumindest mit bestimmten Kräften aus den USA eng zusammen. Diese Frage hat überhaupt etwas mit der Hegemonialfrage in Europa zu tun. Der Vollständigkeit halber muß man hier auch noch anfügen, daß nach dem Umsturz 1976 auch die VR China in die Fußstapfen trat, auf der einen Seite sich selbst für die Kerntechnik etwa aus Deutschland zu interessieren, zugleich aber Kräfte, die die Anti-Akw-Bewegung mittrugen, in Deutschland zu unterstützen.

Nur wenn man begreift, daß der Überbau - die Presse, die Medien, auch die Regierung und die Parteien - in Deutschland in einer besonderen Abhängigkeit von den Kräften der USA, aber auch der früheren Sowjetunion standen, begreift man, wie es  ausgerechnet in diesem Land zu einer solchen Umsetzung der Tschernobyl-Katastrophe mit der Anti-Akw-Kampagne kommen konnte. Der absurde Zustand, daß die RBMK-Reaktoren wie selbstverständlich weiterlaufen, aber die politischen Kräfte, die dazugehören, in unserem Land an der Demontage der Kernenergie arbeiten, kann überhaupt nur erklärt werden, wenn man das Lakaientum der politischen Kräfte begreift, die in diesem Land agieren. Die ganze Anti-Akw-Bewegung hat sehr eng etwas mit Aufrechterhaltung des Hegemonialsystems zu tun. Einerseits mit dem Atomwaffensperrvertrag, noch mehr aber mit dem Monopol in der Energieversorgung, das eine entscheidende Grundlage bisher aller Hegemonialmächte des 20.Jahrhunderts war. Die revolutionäre Bewegung in Deutschland und Europa hat sich immer sehr eng auf die Verbindung von Wissenschaften und revolutionäre Klassen gestützt. Eine Anti-Akw–Bewegung, die die revolutionären Kräfte ergreift, bedeutet per se die Liquidierung derselben, die Zerstörung ihrer Substanz, einen beispiellosen kulturellen Angriff.

 

Deutschland ist das Land, das neben England, Frankreich und einigen anderen europäischen Ländern am meisten zur Entwicklung der Kernenergie und ihrer zivilen Nutzung beigetragen hat. Mit der Deindustrialisierung dieses Landes und der Aushöhlung der industriellen Basis, die mit der Anti-AKW-Kampagne eng verkoppelt ist, sind auch die Quellen für den Fortschritt und die revolutionären Bewegungen entscheidend mit geschwächt worden und werden weiter geschwächt. In diesen Motiven liegen die wichtigsten Ursachen für diese Kampagne.

 

Das Aufpeitschen kleinbürgerlicher Gefühle und regelrecht hysterischer Reaktionen war ein Charakteristikum nicht für die damalige Sowjetunion, sondern für die Bundesrepublik Deutschland. Bilder belegen noch heute, wie Spielplätze mit roten Absperrbändern umzogen wurden mit dem Hinweis: „verstrahlte Zone“ oder es wurde sogar der Sand der Spielplätze abgetragen, weil es „Tschernobyl-Sand“ sei. Absurde Aktivitäten, die sich nur aus den extremen politischen Bedingungen der Bundesrepublik Deutschland erklären lassen, mit der Aufhetzung des Kleinbürgertums und der absurden Irreführung einer ganzen Nation zu ihrem eigenen Nachteil, zu ihrer eigenen Demontage. Nicht umsonst schreien einige Anarchisten aus der  „Antifa“: „Kernenergie stillegen, Deutschland endlagern!“ und ähnliche Sprüche. Das bringt in gewisser Weise auf den Begriff, um was es ihnen - und nicht nur ihnen - hierbei geht.

 

Mit der politischen Kampagne, die mit „Tschernobyl“ gelaufen ist, muß aufgeräumt werden. Die Frage, endlich die Hintergründe dieses Vorfalls wirklich aufzudecken, ist erstrangig auch an die russische Adresse zu richten.

 

Heute treten einige russische Großmachtchauvinisten wieder besonders offen auf mit Energieerpressung, die sie in dieser Form überhaupt nur betreiben können, weil die Kernenergie in Westeuropa auf ein stagnatives Gleis gebracht worden ist. Wäre sie stärker entwickelt, würde diese Gaserpressung gar nicht existieren.

 

Man darf dabei nicht vergessen, daß gerade die USA ebenfalls ihre Finger in dieser „Tschernobyl“- Kampagne mit drin hatten. Die ihnen nahestehenden Medienorgane trieben diese Kampagne voll mit.Es stellt sich auch die Frage stellt, wie weit sie damals schon in der Sowjetunion Fuß gefaßt hatten.

Es gibt auch für die Mehrheit des russischen Volkes ein Interesse, diese Hintergründe der Tschernobyl-Angelegenheit aufzudecken. Diese Katastrophe hat nicht nur einige Dutzend Menschen unmittelbar das Leben gekostet und einige Tausend Menschen in der Nachfolge dann durch Krankheit zum frühzeitigen Tode gebracht, sondern sie hat auch zur Destruierung von Rußlands Industrie beigetragen. Und die Destruierung von Rußlands Industrie bedeutete die Freisetzung von Millionen russischer Arbeiter und ihre völlige Degradierung im Produktionsprozeß. Diese Zerstörung Rußlands und seiner produktiven Basis im Zusammenhang mit dem Umsturz von 1991 hat durch die Zerstörung jeder Perspektive und die radikale Verschlechterung des Lebensstandards in der Folgezeit Millionen das Leben gekostet, ein Vielfaches von dem, was die ganze Tschernobyl-Katastrophe an Opfern gekostet hat. Heute sterben in Rußland die Männer im Durchschnittsalter von 57 Jahren. Das läßt erahnen, wie viele Menschen durch die Verelendung zu Grund gegangen sind. Man muß sie auf Dutzende von Millionen schätzen, und bei diesem ganzen Vorgang haben das internationale Kapital wie auch die russischen neureichen Bürokraten und Kapitalisten in unsäglicher Weise auf dem Ableben von Millionen von Menschen sich bereichert. Ganz ähnlich hat auch die Ukraine, die überwiegende Mehrheit ihrer Bevölkerung, ein Interesse, daß die vollen Hintergründe von Tschernobyl endlich ans Tageslicht gebracht werden.


Tschernobyl war vielleicht der letzte Versuch, über die  „Entspannungspolitik“ die Bundesrepublik enger an sich heranzuziehen. Wenn es tatsächlich gelungen wäre, hier schon damals zu einem Stop der Kernenergie zu führen, hätte das zu einer weiteren Beuge vor der Hegemonie geführt. Zum Glück konnte das verhindert werden. Unsere Organisation hat durch ihre Aufklärung und Propaganda mit dazu beigetragen.

Dann aber bildete Tschernobyl auch den Auftakt zur weiteren Auflösung der Sowjetunion selbst. Vieles spricht dafür, daß die USA aber auch andere westliche Staaten ihren Einfluß dort haben vermehren können, und die „Transformation“ in ihrem Sinne vorantrieben, mit den bekannten Resultaten. So wirken im Hintergrund viel bedeutendere Prozesse als die Katastrophe selbst, die in Wirklichkeit ein politisches Mittel par excellence darstellte und dafür genutzt wurde.

 

Mit diesen Bemerkungen muß man in die Tage der Erinnerung an Tschernobyl hineingehen, und sich den Aufgaben der weiteren Aufdeckung stellen

 

Redaktion Neue Einheit

 

 

 

Die zwei wichtigsten früheren Publikationen aus nun ganz verschiedenen Epochen 1986 und 1996 werden hier aus Anlaß des Jahrestages an entscheidender Stelle dokumentiert.

 

Noch immer aktuell - unsere Stellungnahme zum 10. Jahrestag:
Die entscheidenden Fakten gehören endlich in die Öffentlichkeit
NEUE EINHEIT Extrablatt Nr.25 vom 7.04.1996

 

Aus der NEUE EINHEIT Nr.5/86 von Oktober 1986:
Die Veröffentlichung des Tschernobyl-Berichts - Zur Verlogenheit der Medienhetze gegen die Kernenergie
Dieser Beitrag entspricht selbstverständlich einer ganz anderen Lage als der des Jahres 2006 oder des Jahres 1996. Es war eine Zeit der letzten Bemühungen der Sowjetunion um ihre Weltmachtstellung und des Beginns ihres eigenen inneren Verfalls.

 

 



[1]   RBMK ist die russische Abkürzung für Реактор Большой Мощности Канальный [reaktor balschoi moschnosti kanalnui], wörtlich  etwa Hochleistungs-Reaktor mit Kanälen. Es handelt sich um einen graphitmoderierten Siedewasser-Druckröhrenreaktor.

 

 

www.neue-einheit.com


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10. Jahrestag der Tschernobyl - Katastrophe:
Die entscheidenden Fakten gehören endlich in die Öffentlichkeit
NEUE EINHEIT Extrablatt Nr.25 vom 7.04.1996

Aus der NEUE EINHEIT Nr.5/86: Die Veröffentlichung des Tschernobyl-Berichts - Zur Verlogenheit der Medienhetze gegen die Kernenergie
10. Oktober 1986

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Die Bedeutung des sog. Konsenses über die Stillegung der Kernenergie
Memorandum von Hartmut Dicke

7. Juli 2000


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zur Frage der Kernenergie