Erdogan, Gülen und das Erbe des Osmanischen Reiches

 

 

Wassili Gerhard   24.08.2016   

Die Religionsbehörde in der TürkeiAnm.1 werde jetzt auch von Gülen-Anhängern gesäubert, hieß es kürzlich. Aber was ist mit deren Ableger und verlängerten Arm hier, der DitibAnm.2 (Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion e. V., Diyanet İşleri Türk İslam Birliği, abgekürzt DİTİB)? Tatsächlich hat Erdogan in der Vergangenheit lange mit Gülen zusammengearbeitet, um sich und seine Partei in die wichtigsten Positionen zu bringen und die Kräfte, die in der Türkei seinen Bestrebungen nach Durchsetzung einer islamisierten Gesellschaft im Weg standen, aus wichtigen Positionen hinauszudrängen. In dieser Zielsetzung waren sie sich anscheinend einig, aber nicht darin, wie es weitergehen soll. Solche Zweckbündnisse sind nichts ungewöhnliches. Erdogan hat sich vor kurzem in der Weise geäußert, er habe in der Vergangenheit mit Gülen zusammengearbeitet, aber dessen wahre Natur nicht erkannt, nun habe er ihn durchschaut.

Daß Gülen in den USA sitzt, weist schon auf die Differenzen zwischen beiden hin, denn Erdogan stützt sich eben nicht einseitig auf die USA, sondern verfolgt einen eigenen, in gewissem Sinne „neo-osmanischen“ Großmachtkurs. Auch beim Osmanischen Reich diente eher der Islam der türkischen Expansion als daß die türkische Expansion dem Islam diente. Es wäre auch verwunderlich, wenn es anders wäre. Sein Kurs führt Erdogan jetzt z.B. auch zu engerer Kooperation mit Putin oder Iran.Gülen dagegen scheint eine etwas andere Richtung zu vertreten. Der Vergleich mit den Muslimbrüdern kommt da eher in den Sinn, die gegen nationale Bewegungen waren und sind, weil sie ihnen als Widerspruch zur Einheit der „Umma“ erschienen, zur Einteilung der Welt nur in islamisch dominierte Gebiete und solche, die es (in ihrer Sicht noch) nicht sind. Nationen spielen in deren Islam eigentlich keine Rolle. Und in diesem Punkt treffen sie sich mit den USA, die für sich auch den schrankenlosen Zugang zu allen Ländern fordern. Aber wehe wenn man das umgekehrt auch von ihnen verlangt.

Daß Gülen jetzt Asyl in den USA findet, ist sicher ein auch ein wichtiger Grund, warum unsere Politiker ihn so in Schutz nehmen, liegt, außer in deren Eilfertigkeit gegenüber dem Staat, auch in der hiesigen Unterwürfigkeit gegenüber den USA, die sich unter Merkel deutlich gesteigert hat. Und so lavieren sie herum und drücken sich vor der Frage, ob nicht auch Ditib, die hier eine große Zahl Moscheen betreibt und sie mit Predigern vor allem aus der Türkei besetzt, auch als subversive Einrichtung im Sinne Gülens tätig war. Die wollten hiesige Politiker hier eigentlich als privilegierte öffentlich rechtliche Religionsanstalt etablieren, in NRW unter Kraft sind solche Bestrebungen schon recht weit gediehen. Eine subversive islamistische Bewegung als staatlich privilegierte und finanzierte öffentlich rechtliche Einrichtung? Was hat sich der Staat da ins Land geholt, ursprünglich zur Bekämpfung linker und kämpferischer Kräfte unter den Türken und zu ihrer Separierung von entsprechenden deutschen Kräften?

Jetzt, wo es immer offenere Differenzen zwischen Erdogan und den USA gibt, da wird zwar die Ditib als verlängerter Arm Erdogans in Frage gestellt -- wie ein Barometer zeigt die Dosierung der Kritik an Erdogan in den hiesigen Medien, wie deutlich sich die Differenzen zwischen Erdogan und den USA zeigen. Das ist sozusagen gegenwärtig im Fluß. Aber ob Ditib auch im Sinne des Gülenismus Subversion betrieben hat bzw. betreibt, das ist nicht das Thema. Wenn man den Stil dieser Vereinigung und ihrer Wortführer betrachtet, wie sie abwechselnd Kreide gefressen haben und ihre Treue zum Staat bekunden, und dann wieder ihre offiziellen und inoffiziellen Fürsprecher mit allen möglichen Konsequenzen drohen, wenn sie nicht bekommen, was sie wollen, dann sollte man eigentlich sehr mißtrauisch werden. Aber auch von Erdogan wird das nicht thematisiert, obwohl es doch naheliegt, wenn er die Religionsbehörde säubern muß, daß auch Ditib von Gülenisten durchsetzt ist. Aber dann würde vielleicht auch seine eigene Subversion gemeinsam mit Gülen thematisiert, und ob sie mit dem Zerwürfnis mit Gülen beendet ist. Es ist wohl nicht davon auszugehen, daß er das tun will. Und die hiesigen Politiker scheuen vor dieser Frage zurück, weil sie z.B. nicht öffentlich erörtern wollen, warum die USA über solche Bestrebungen ihre schützende Hand halten.

 

Was ist das denn eigentlich, eine Religionsbehörde?

Es lohnt sich, dieser Frage nachzugehen. Diese Behörde, die Diyanet, regelt die Religion in der Türkei und bestimmt, was zulässig ist und was nicht, die Imame sind gleichzeitig türkische Beamte. Das ist eigentlich mit einem modernen Staat unvereinbar, wo Religion wie auch Nichtreligiosität Privatsache der Bürger sein sollte. Daß diese Behörde die Ditib initiiert hat und finanziert, muß doch alleine schon deren Unmöglichkeit klarmachen. Umso mehr als sie den Anspruch des türkischen Staates verkörpert, auch dann weiter türkischstämmigen Menschen Weisungen zu erteilen, in die Form der Religion gekleidet, wenn sie ausgewandert und Bürger eines anderen Staates geworden sind.

Nun gibt es diese Behörde nicht erst, seit Erdogan an der Macht ist, sondern auch schon unter Atatürk, gegründet 1924. Da sollte sie den Islam in der Türkei kontrollieren, eine Art Staatsislam garantieren, der nicht wieder zur Ordnung des Sultanats und Kalifats zurückkehrt. Also nicht wirklich ein Staat, in dem die Religion Privatsache ist, wenn auch der Charakter als ein Kalifat mit „islamischen Rechtsgelehrten" als Gesetzgeber beseitigt werden sollte. Im Staat sollte die Armee, auf die sich Atatürk gestützt hatte, einen dominierenden Einfluß haben, die sich auch seit jeher das „Recht“ auf einem Staatsstreich vorbehielt, wenn sich das Land in eine zu sehr islamisierte Richtung entwickelte, und so putschten sie1960 gegen die frei gewählte Regierung Menderes (Zitat Menderes: “Der türkische Staat ist muslimisch und wird muslimisch bleiben.“) Das ist letztlich immernoch die Kultur der Verbindung von weltlicher Herrschaft und Herrschaft über die Religion, dieses Merkmal der Theokratie wurde so nicht völlig überwunden.

Atatürk wollte die Türkei nach dem Vorbild der europäischen Nationalstaaten umgestalten, nachdem sie ihr Kolonialreich verloren hatte, für das sie das Kalifat als Klammer gebraucht hatte, und sich stärker an Europa anlehnen, um die Entwicklung des Landes zu fördern, den Rückstand aufzuholen. Das „Türkentum“ sollte Grundlage für den Zusammenhalt des Landes werden. Eine solche völkische Konzeption mußte aber auf eine Reihe von Problemen stoßen. Die Türkei war nicht so einheitlich, sondern in weiten Teilen von einem Völkergemisch bewohnt. Wikipedia zählt auf:

„Zu den Bevölkerungsgruppen in der Türkei zählenTürken, Kurden, Zaza, Aramäer, Lasen, Armenier, Griechen, Tscherkessen, Albaner, Bosniaken, Georgier, Araber, Tschetschenen, Juden, Roma und zahlreiche weitere Ethnien, deren Anteil an der Gesamtbevölkerung sehr gering ist.“

Das war zur Zeit nach dem Ende des Osmanischen Reiches noch in viel stärkerem Maße so. Man hätte einen Modus des Zusammenlebens mit den Minderheiten aushandeln müssen, die diese Minderheiten, auch z.B. die Kurden, in die neue, moderne Nation integriert. Und dazu müssen auch Bedingungen geschaffen werden, daß diese sich nicht vergewaltigt fühlen und in diesem neuen Staat einen Rahmen für die eigene Entwicklung finden. Aber man muß natürlich auch realistischerweise berücksichtigen, daß die Umstände dies sehr erschwert haben, denn die Türkei führte einen Überlebenskampf gegen die Mächte des Versailler Vertrages, die ihr Lebensrecht als Staat in Frage stellten und den größten Teil ihrem Kolonialreich einverleiben wollten. Zu diesem Zweck schürten sie auch die inneren Widersprüche. Diese sollten nicht von ihrer Schuld an der Schärfe der damaligen inneren Entwicklung freigesprochen werden.

Ein großer Anteil von Griechen, die im Osmanischen Reich seit jeher eine wichtige tragende Rolle in der Verwaltung und Staatsführung gespielt hatten, und eine große Zahl von Armeniern, in der Region schon beheimatet, bevor die Türken im 11. Jahrhundert dort die Oberherrschaft erlangten, lebten in der Türkei. Diese Minderheiten standen der Konzeption Mustafa Kemals (Atatürk) im Wege und wurden in der Folge systematisch dezimiert und vertrieben. Damals gab es noch 1,5 Millionen Armenier in der Türkei, heute sind es noch 60.000, die in der Mehrheit in Istanbul leben und auch heute Diskriminierungen ausgesetzt sind. Noch vor 100 Jahren lebten Millionen Griechen in der Türkei. In der Türkei wurden sie auch „Rum“ genannt, das steht für „Römer“, was auf das oströmische Reich anspielt, zu dem die Region einst gehörte, das nach dem Untergang des weströmischen Reiches noch viele Jahrhunderte weiterexistierte und unter der Bezeichnung Byzanz einen zunehmend griechisch geprägten Charakter annahm. Von den Millionen griechischen Einwohnern sind heute nach verbreiteten Angaben noch ca. 3000 bis 4000 übrig. Die imperialistischen Mächte unterstützten die „ethnischen Säuberungen“ und halfen bei der Vertreibung der Griechen aus der Türkei und von Türken aus Griechenland.

Daß man die Griechen und Armenier nicht integrieren konnte, muß auch mit deren langer Separierung und Nicht-Gleichberechtigung in einem islamischen Staat zu tun haben. Das islamische Prinzip, daß man den Menschen anderen Glaubens zwar nicht den eigenen Glauben aufzwingt, aber sie dann auch in einer Art Apartheidssystem ausgrenzt, eine Vermischung unterbindet und sie unter die Oberhoheit der islamischen Autoritäten stellt, steht der Bildung einer modernen Nation entgegenAnm.3. Den Islam als Bindemittel in einem Vielvölkerstaat, der nun ein Nationalstaat nach europäischem Vorbild werden sollte, konnte man anscheinend nicht völlig entbehren, aber diese Minderheiten paßten da nicht hinein. Eine moderne Nation, die eben nicht vorwiegend auf Blutsbanden, gemeinsamer Abstammung oder gemeinsamer Religion beruht, kann man so nicht hervorbringen.

So spielte also die Religion auch hier faktisch weiter eine Rolle, spielte ganz bestimmt auch eine Rolle dafür, daß die Ausschaltung dieser Minderheiten große Akzeptanz in der Bevölkerung fand, noch 1955 fand unter Menderes in Istanbul ein Pogrom gegen Griechen statt, einschließlich auch bei den überwiegend moslemischen Kurden, die auch damals dadurch auffielen, daß sie sich exclusiv um kurdische Interessen kümmerten und wenig solidarisch mit anderen Kräften in einer vergleichbaren Lage waren. Das hat sich letztlich nicht zu ihrem Vorteil ausgewirkt.

So knüpfte die Neuausrichtung der Türkei indirekt doch an Elemente des vorherigen Kalifenstaates an, an eine letztlich theokratische Kultur der Einheit von weltlicher und geistlicher Macht, auch wenn Atatürk es wohl persönlich nicht so mit der Religion hatte. Und so wurde das „Religionsministerium“, gewollt oder nicht, faktisch doch auch ein Ministerium, das die Dominanz des Islam und seine Verbindung mit dem Staat verwaltete. Und für Erdogans AKP (in Kooperation mit der Gülenrichtung) konnte sie deshalb auch als ein Instrument zur Re-Islamisierung des Staates nutzbar gemacht werdenAnm.4. Daraus kann man den Schluß ziehen, daß eben eine moderne demokratische Nation nicht aufgebaut werden kann, ohne alle Elemente der Theokratie gründlich zu beseitigen, einschließlich ihrer kulturellen Wurzeln. Theokratie ist eben nicht vereinbar mit Demokratie.

Der europäische Einfluß war wohl groß genug, um Gegenbestrebungen hervorzubringen. Gerade in Istanbul gibt es auch eine mehr nach Europa orientierte säkulare Kultur. Aber ihr Einfluß wird zurückgedrängt. Eine wachsende Gegenkraft dazu sind Massen von Landbewohnern, die in Folge der Umwandlung der Agrarstruktur in die Stadt gekommen sind, als deren Sachwalter Erdogan immer besonders aufgetreten ist. Deren „informelle Siedlungen“, also Slums waren in der Vergangenheit um Ankara und Istanbul in einem Maße gewachsen, daß sie auf Dauer die ursprüngliche Bevölkerung an Einwohnerzahl überstiegen. (Ähnliches hat auch im Iran bei der Islamisierung und Machtergreifung Khomeinis eine wichtige Rolle gespielt) Diese wurden unter Erdogan dauerhaft legalisiert und in feste Wohnviertel umgewandelt. Damit wuchs mit den zumeist konservativ-muslimischen Zugewanderten Erdogans Massenbasis erheblich. 

Versucht Erdogan eventuell jetzt nach dem gescheiterten Putsch in einer neuen Wendung eine Verbindung von Elementen des Kemalismus und Islamismus, sowie auch des chauvinistischen Pan-Türkentums (MHP/Graue Wölfe)? Diese versucht er jetzt um sich zu scharen. Also nicht Kalifat und Ulama (islamische Rechtsgelehrte) als Gesetzgeber, aber eben ein Zwischending mit einer islamisch geprägten weltlichen Macht und mit einer Verfassung, die in einem gewissen Maße das ethnisch-türkische Element und den islamischen Charakter der Türkei kombiniert und festschreibt. Es sieht also ganz so aus, als wenn Erdogan sich in eine bestimmte türkische Kontinuität stellt. Sich dermaßen an einen solchen Staat zu binden und ihm einen solchen Einfluß hier zu gestatten, wie das hier gegenwärtig passiert, wird keine guten Resultate hervorbringen, auch nicht für die Betreiber davon.

 

 

 

 

 

 


1  Diyanet İşleri Başkanlığı, Amt für Religiöse Angelegenheiten in der Türkei.
Diyanet ist ein türkisches Wort und bezieht sich auf eine religiöse, muslimische Autorität der Rechtsprechung. Die Religionsbehörde entsendet Räte (müşavir) und Attachés an Botschaften und Konsulate, insbesondere in der Bundesrepublik Deutschland. Das Diyanet ist direkt dem Ministerpräsidenten unterstellt und ist die höchste islamische Autorität des Landes. Die Behörde hatte im Jahre 2015 mehr als 100.000 Mitarbeitern und einem Jahresetat von umgerechnet mehr als einer Milliarde Euro. (Angaben nach Wikipedia) zurück

2  Der Vorsitzende der DITIB ist in Personalunion auch türkischer Botschaftsrat für religiöse und soziale Angelegenheiten. Zudem werden die an staatlichen theologischen Hochschulen in der Türkei ausgebildeten Imame der DITIB für fünf Jahre nach Deutschland geschickt und sind de facto Beamte des türkischen Staates, von dem sie auch bezahlt werden. (Angaben nach Wikipedia) zurück

3  So verbietet der Islam die Heirat islamischer Frauen mit nicht-islamischen Männern. Da der Islam hier von alten arabischen Stammesregeln zur Zeit seiner Entstehung ausgeht, gehen durch Heirat die Frauen in die Familie des Mannes über, der dann auch über die Religion der Kinder bestimmen darf. Der umgekehrte Fall ist eher möglich, wenn wirklich sichergestellt wird, daß die Kinder zu frommen Moslems erzogen werden. Also das Wachsen des moslemischen Anteils auf Kosten des nichtmoslemischen ist erlaubt, aber nicht umgekehrt. Erdogan sagte doch „Assimilation ist ein Verbrechen“, das gilt jedoch nur in eine Richtung. zurück

4  Der Apologet des islamischen Einflusses Malte Lehming, Leitartikler im Tagespiegel, nennt die Erdogan-Richtung eine Verbindung von Islam und Demokratie. Nun, solche Kräfte führen die Demokratie im Munde, solange sie sich einen Vorteil davon versprechen. Solange seine Gegner noch stärker waren, konnte das Erdogan bisweilen nutzen. Aber wenn er fest im Sattel sitzt, die Opposition ausgeschaltet oder ans Gängelband genommen hat, wie das jetzt aussieht, dann ist Demokratie das, was er als „Äußerung gesunden Türkentums“ definiert. Lehming kommt einem vor wie ein Vertreter, der glaubt, mit Wortgewandtheit Eskimos Kühlschränke verkaufen zu können. zurück

 

 

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