Internet Statement 2017-65

 

 

Syrien: Kampf um die Aufteilung

 

Wassili Gerhard   20.06.2017   

In dem Maße, wie der IS in Syrien und Irak an Territorium verliert, eskaliert der Streit zwischen den Mächten, die mit dem IS als offizieller Begründung in Syrien und im Irak interveniert haben über die Frage, wer dieses Territorium besetzen bzw. als seine Einflußzone beanspruchen soll. Die USA beeilen sich anscheinend, sich noch ein möglichst großes Stück vom Kuchen zu sichern. Im Kampf um Rakka wachen sie eifersüchtig, daß dort nur sie und die mit ihnen Verbündeten an den erwarteten Lorbeeren der Erstürmung der „IS-Hauptstadt“ beteiligt sind und stecken rundherum eine Zone ab, wo sie bestimmen, wer dort wie bewaffnet agieren darf. Neuester Höhepunkt ist der Abschuß eines syrischen Kampfflugzeuges durch einen USA-Jet. Es folgte die Aufkündigung der gegenseitigen Verständigung über Luftangriffe seitens Russlands. Interessanterweise definiert Russland in diesem Zusammenhang selbst eine Grenze der Einflußzonen. Westlich des Flusses Euphrat sollen US-Flugzeuge nicht mehr fliegen, sonst würden sie angegriffen. Man steckt Einflußzonen ab.

 

Es gibt immer öfter Meldungen, daß sich die Interventionsmächte, die doch zumeist angeblich zum Kampf gegen IS dort sind, gegenseitig oder durch Stellvertreter bekämpfen, weil die immer mehr inoffiziell und neuerdings offizieller festgeschriebenen Grenzen von Einflußzonen verletzt werden. Sei es, daß „Rebellengruppen“, die mit den USA zusammenhängen, mit türkischen Truppen aneinander geraten, daß Kräfte, die mit der syrischen Regierung zusammenhängen, mit militärischer (US-)Gewalt daran gehindert werden, am Kampf gegen die IS-Hochburg Rakka teilzunehmen, wo die USA das Kommando haben. Die Türkei will man dort auch nicht haben. Gruppen, die mit der Regierung Assad zusammenhängen, werden direkt militärisch angegriffen. Den Vorwand, es sei ein Versehen gewesen, brauchen die USA anscheinend neuerdings nicht mehr.

 

Im Irak sah sich die Regierung gezwungen, gegen türkische Truppen zu protestieren, die die Souveränität des Irak nicht respektieren. Die Türkei äußert sich auch in der Richtung, die irakischen Grenzen in Frage zu stellen und regiert ungehemmt in Syrien und den Irak hinein. Die Türkei wollte auch unbedingt am Kampf um Mossul teilnehmen, aber andere Teilnehmer wollten das nicht, weil man fürchtet, daß man dann das türkische Militär nicht mehr los wird. Daß die Türkei eine Nostalgie um das alte Osmanische Reich betreibt, wo ja diese Gebiete alle unter türkischer Oberherrschaft standen, nährt die Sympathie auch nicht.

 

Die kurdischen Truppen sind wiederum gespalten in solche, die mit der Türkei zusammenarbeiten und solche, die von der Türkei bekämpft werden, wobei diese wieder mit den USA zusammenarbeiten. Man darf auch gespannt sein, welche Versprechungen ihnen gemacht wurden - natürlich auf Kosten Syriens und Iraks. Die kurdischen politischen Kräfte zeichnen sich sowieso nicht besonders dadurch aus, daß sie Nationalstaaten respektieren. Alles geht nur um ihren eigenen Staat, den sie nicht haben. Ist es aber ein Zufall, daß sie den nicht haben? Hat es nicht auch damit etwas zu tun, daß viele dort noch so im Clan- und Stammesdenken verhaftet sind, daß sie erstens noch keine gesamtkurdische Nationalbewegung zustande gebracht haben und zweitens eine solche Selbstgerechtigkeit an den Tag legen, wie sie für Kräfte typisch ist, die sich zu einem modernen nationalen Denken noch nicht durchgerungen haben und auch die Rechte anderer Nationen gelten lassen, die gegenseitige Solidarität genügend wertschätzen. Daß man die Solidarität anderer nur bekommt, wenn das keine Einbahnstrasse ist, scheinen da manche schwer zu begreifen. Ohne das gewinnt man aber keine dauerhaften Verbündeten, sondern es gibt vor allem Koalitionen, getragen von der Absicht der gegenseitigen Ausnutzung, wie jetzt mit den USA. Wer solche Freunde hat, braucht sich allerdings um genügend Feinde keine Sorgen zu machen.

 

Die Wiederherstellung der Souveränität Iraks oder Syriens scheint nicht die Zielsetzung zu sein. Die Zusammenarbeit von schiitischen und sunnitischen Kräften im Irak ist noch ein Lichtblick, aber Iran als Gegenspieler Saudi-Arabiens in der Region hat auch seine eigenen Zielsetzungen. Aus Anlaß des Anschlags in Teheran hat nun Iran direkt mit eigenem Militär interveniert. Wenn der gemeinsame Feind IS in Mossul besiegt ist, werden wir sehen, wie es danach aussieht. Die jüngste Entwicklung des Antagonismus zwischen Katar und Saudis, die Parteinahme der Türkei für Katar und die Parteinahme Trumps für die klerikal fanatischen Saudis gehen natürlich auch in die Richtung einer Sprengung der Zusammenarbeit und der Vertiefung der Spaltung anhand konfessioneller Linien. Der sogenannte „Rice-Plan“, der die Region nach religiösen und ethnischen Gesichtspunkten völlig neu aufteilen wollte, läßt grüßen. Syces-Picot in modern. Was Syrien betrifft: Man einigt sich nicht über die Verteilung der Haut des Bären, dessen Erlegung man für eine Frage der Zeit hält. Es sieht nicht so aus, als ob außer der Regierung Assad noch jemand die Souveränität Syriens wiederherstellen will. Daß es wegen der Aufteilung zu einem Krieg kommt, der Auswirkungen über die Region hinaus hat, ist dabei durchaus möglich. Für Derartiges finden sich in der Vergangenheit genügend Beispiele.

 

Wer will große Nationalstaaten und wer nicht?

 

Große lebensfähige Nationalstaaten will der Imperialismus dort im Mittleren Osten schon immer nicht haben. Als das Osmanische Reich als ein Verlierer des ersten Weltkrieges zur Aufteilung freigegeben wurde, anfangs inclusive der Türkei selbst, einigte man sich inoffiziell schon auf die Verteilung des Kuchens unter die Sieger, obwohl man den Arabern doppelzüngig die Souveränität in einem arabischen Staat versprochen hatte, wenn sie die Türken bekämpfen. Man stachelte die wahabitischen Kräfte an, den Türken das Kalifat zu entreißen und seit damals dauert die Zusammenarbeit mit diesen an. Das Konzept erlitt einen Schlag schon einmal dadurch, daß das zaristische Rußland, das auch mit im Boot war und mit einem Teil der Türkei bedacht werden sollte, durch die Oktoberrevolution aus diesem erlauchten Kreis der Kolonialmächte erst einmal ausschied und die Aufteilungspläne öffentlich machte.

 

Die heute gern wiederholte Mär, daß Irak und Syrien ihre Existenz nur den Kolonialmächten verdanken, was übrigens auch vom sogenannten „Nationalkongreß Kurdistans“ vertreten wird, der vor allem über die damalige Nichtberücksichtigung der Clans und Stämme jammert, (jedenfalls seine Ko-VorsitzendeAnmerkung 1) läßt sich nach einem Blick auf den Flickenteppich nach der geplanten Aufteilung schnell widerlegen. Diese Staaten sind als Erfolg des Kampfes der Völker dort zustande gekommen, die den Rahmen dieser Staatsgebiete für sich genutzt haben und die Zersplitterung überwunden haben, welche anscheinend nun die Imperialisten wieder neu etablieren wollen.

 

Die Volksbewegungen wurden mit barbarischen Mitteln bekämpft. Groß Britannien überzog den Irak in Verteidigung seiner Kolonialinteressen mit Bombenterror und Giftgasangriffen und spielte wie immer Volksgruppen und Konfessionen gegeneinander aus. Mit brutalen Methoden verteidigte es die Abtrennung Kuwaits. Zitat Churchill von damals: „Ich spreche mich ausdrücklich für den Einsatz von Giftgas gegen unzivilisierte Volksstämme aus.“ (Nicholson Baker „Menschenrauch“, S. 13)

 

Lesen wir in Wikipedia, was die französische Kolonialmacht tat, die sich mit Waffengewalt gegen patriotische Kräfte durchsetzte, die eine eigene Regierung etabliert hatten und einen relativ modernen großen syrischen Staat schaffen wollten, für alle arabischen Bürger ohne Ansehen der Religion. Die französische Kolonialmacht wollte keinen syrischen Staat schaffen, sondern sechs verschiedene Staaten, nach religiösen und konfessionellen Aspekten getrennt. Aufstände und Bestrebungen zur nationalen Unabhängigkeit wurden mit großer Härte niedergeschlagen. Dabei setzte sie auch die moderne Kriegsmaschine gegen Menschen ein, die zuvor auf der gleichen Seite im ersten Weltkrieg gekämpft hatten und denen man einen eigenen arabischen Staat versprochen hatte:

 

„Erst 1923 konnte Frankreich die ausbrechenden Aufstände in den alawitischen Gebieten des Dschebel ad-Duruz und in Aleppo niederschlagen und erlangte die volle Kontrolle über ganz Syrien.
[...]

Nach der Konferenz von Sanremo und der Niederlage von Faisals Monarchie bei der Schlacht von Maysalun teilte der französische General Henri Gouraud das Mandat von Syrien in sechs Staaten. Es handelte sich um den Staat von Damaskus 1920, den Staat von Aleppo 1920, den Staat der Alawiten 1920, den Staat der Dschebel ad-Duruz 1921, den autonomen Sandschak Alexandrette 1921 und den Staat Großlibanon 1920, aus welchem später der moderne Libanon wurde.“ (https://de.wikipedia.org/wiki/Völkerbundmandat_für_Syrien_und_Libanon)

 

Etabliert vom Imperialismus sind eher solche Staaten wie Kuwait und Saudi-Arabien, schwache gesellschaftlich rückständige Staaten, die den Schutz der Imperialisten brauchen, denen sie dafür das Öl günstig überlassen und für deren Hegemonie in der Region sie eintreten, genau wie das künstlich eingepflanzte Israel, das nur wirklich eine Zukunftschance dort hat, wenn man sich dort aus dieser Rolle befreit und gemeinsam mit den Palästinensern einen modernen säkularen Staat errichtet, der dieser Region zum Vorteil gereicht. Dafür muß sich auch bei den Palästinensern etwas ändern. Die größten Probleme dieser Region sind vor allem verursacht vom Kolonialismus und Neokolonialismus, vom Imperialismus wie auch den fanatischen rückwärtsgewandten Islamisten, die die Förderung der Imperialisten besitzen, wie sie auch fortschrittliche Kräfte bekämpfen. Das gestürzte Baath-Regime im Irak und das in Syrien sind beides säkulare Regierungen gewesen, die entgegen der gängigen Verleumdungen keinen einseitig konfessionellen Charakter trugen. Sie verstanden bzw. verstehen sich in erster Linie als arabisch und dann irakisch bzw. syrisch, während die konfessionelle Zugehörigkeit in beiden Fällen irrelevant war bzw. ist. Die Imperialisten haben auch ihren Beitrag zur heutigen Herrschaft der Mullahs im Iran geleistet, indem sie den Schah unterstützten, der jede fortschrittliche Opposition barbarisch unterdrückte. Diese Unterdrückung setzt das Mullah-Regime fort. Im der Logik dieser Politik ist es auch zu sehen, daß man kein säkulares Syrien will und die klerikal-rückständigen Kräfte dort mobilisiert und aufgerüstet hat, wobei auch der IS mit herausgekommen ist.

 

 


Anm.1 [zurück]  Zitat Nilüfer Koç, Vizevorsitzende des Nationalkongresses Kurdistans :

„Das Brutale an dem Abkommen war, dass es keineswegs Rücksicht nahm auf die Clan- und Stammesstrukturen der verschiedenen ethnischen Zugehörigkeiten. Bis zum Abkommen hatte es keine nationalstaatlichen Grenzen gegeben. Daher bewegten sich die Clans, Familien, Stämme auf verschiedenen Territorien. Mit der Grenzziehung per Lineal wurden diese Stämme dann auf die künstlich geschaffenen Nationalstaaten verteilt. Sykes-Picot war ein operativer Eingriff in die Vielfalt der Völker wie Kurden, Araber, Türken, der Glaubensgemeinschaften wie Muslime, Christen, Juden, Êzîdi, Schiiten etc. Die Region ist immer noch mit den Konsequenzen dieses brutalen Eingriffs befasst. Resultat sind die weiter andauernden Kriege, Konflikte und Spannungen zwischen Völkern und Religionen. Dieser Zustand ermöglichte den westlichen Mächten, zu tun und zu lassen, was immer sie vorhatten.“

Hier geht es doch wenig verhüllt vor allem um die kurdischen Sonderinteressen, wie immer. Die Schaffung von Nationalstaaten im modernen Sinne ist eben gerade nicht Grenzziehung nach religiösen und ethnischen Linien. Idealerweise gibt es Übereinstimmungen, aber das ist nicht immer zu verwirklichen. Syrien und Irak sind durchaus historische Gebiete, die eine sehr lange Geschichte haben, Syrien allemal, beim Irak denken wir an Mesopotamien und die lange spezielle Geschichte dieser Region, oder Bagdad als Weltmetropole unter den Abbasiden. Eine Vereinigung oder Konföderation beider Länder wäre vielleicht ohne imperialistische Einmischung auch denkbar gewesen, denn zeitweise gehörten sie auch zusammen. Eine Schaffung dieser Staaten ist jedenfalls ein großer Fortschritt gegenüber einem religiös-ethnischen Stammes-Flickenteppich. Dieser war ja nicht zuletzt auch durch den Niedergang der Region und die Oberherrschaft der Osmanen so zustande gekommen.

 

 

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