Internet Statement 2020-01

 

 

 

Eine große Demonstration gegen Neonazi-Umtriebe in Berlin-Neukölln am 21.12.2019

Was positiv auffiel und was negativ aufstieß

 

 

Wassili Gerhard  03.01.2020

Seit einiger Zeit schon fallen die Meldungen über offenbar rechtsradikale Anschläge in Neukölln besonders auf. Es gab Aktivitäten, die sich anscheinend besonders auf „Kern-Neukölln“ und auf den weiter außen gelegenen Teil Rudow konzentrieren. Das Zerstechen von Reifen oder gar Anzünden von Autos, Brandanschläge auf Läden und Wohnhäuser und deren Beschmieren mit Nazisymbolen und Parolen haben sich mehrfach wiederholt und richteten sich insbesondere gegen bekannte politisch Aktive, die sich gegen die Neonazi-Umtriebe besonders engagieren, teilweise auch deren Verwandte. Es gab sogar in der Vergangenheit offenbar rechtsradikal motivierte Morde, die bis heute nicht aufgeklärt wurden.

 

Dabei hat man den Eindruck, daß die Polizei bei der Aufklärung irgendwie nicht voran kommt, und es gibt auch mal wieder „Pannen“, wie man sie seit eh und je kennt, wenn es z.B. um die Aufdeckung von Neonazi-Aktivitäten geht, siehe NSU – wie sie sich allerdings neuerdings auch im Fall Anis Amri und seinem Attentat auf den Weihnachtsmarkt gezeigt haben. Im Falle der Neonazis drängt sich immer wieder der Eindruck auf, daß diese eine Protektion aus dem „Sicherheits“-Apparat heraus genießen, wo es ja auch innerhalb Anzeichen für entsprechende Zusammenhänge gibt. Wann werden denn mal wirklich wichtige Drahtzieher aus diesem Bereich zur Rechenschaft gezogen? Kleine Mitläufer werden dagegen eher, aber immer wieder als „Einzeltäter“, präsentiert. Die Hintergründe völlig aufzudecken ist wohl nicht gewollt. Weiter hinten will ich darauf noch detaillierter eingehen.

 

Es ist daher ganz richtig und wichtig, daß eine bemerkenswert große Demonstration stattgefunden hat, nach Angaben in der Presse mit 800 bis 1000 Teilnehmern, obwohl die Öffentlichkeitsarbeit dafür nicht sehr lange und nicht sehr intensiv war und der Rahmen eher bezirksbezogen war. Sie startete am Hermannplatz, ging die Sonnenallee entlang, an einer angegriffenen Konditorei vorbei bis zu einem Haus in der Wildenbruchstraße, wo Fensterscheiben eines Burger- und eines Spätkaufladens eingeworfen wurden, begleitet von Nazischmierereien und zerstochenen Autoreifen, und dann zum Neuköllner Rathaus. Offenbar waren viele in Neukölln der Meinung, daß es reicht und etwas passieren muß. Auch der Bezirksbürgermeister Hikel schien das gemerkt zu haben und redete selbst neben Anderen auf der Abschlußkundgebung, obwohl ihm keineswegs alle Teilnehmer wohlgesonnen waren. Wie weit dem Taten folgen, muß natürlich aufmerksam verfolgt werden. So sollte man mal Druck auf die sogenannten Sicherheitsorgane ausüben, doch mal ihre V-Leute zu fragen, die sie da bei den Neonazi-Kreisen ganz sicher drin haben. Oder sind die nur zur bezahlten Unterstützung da? Diesen Eindruck hat man allerdings bisweilen.

 

 

 

Warum kommt die Aufdeckung der Nazitäter nicht richtig vorwärts?

 

Offenbar will man diesen Kreisen, über deren Drahtzieher man doch anscheinend gut Bescheid wissen sollte, die auch nicht unbedingt zahlenmäßig groß sein müssen, sondern einen zahlenmäßig bescheidenen Umfang haben dürften, nicht wirklich das Handwerk legen seitens der staatlichen Akteure – jedenfalls maßgeblicher Kreise darin. Innerhalb mag es auch Widersprüche dabei geben. Das hat schon eine lange Vorgeschichte: Faschisten hatten seit jeher eine Deckung aus den herrschenden Klassen, im Inland und auch darüber hinaus. Die Nazifaschisten haben in ihren Anfängen mit ihrem Mordterror gegen die damals starke revolutionäre Arbeiterbewegung in Deutschland und mit ihrem Krieg gegen den ersten sozialistischen Staat auf der Welt das Geschäft des ganzen imperialistischen Lagers betrieben, nicht nur deutscher Kräfte allein. Dafür haben die Siegermächte des ersten Weltkrieges zunächst über manches hinweg gesehen, auch über ihren Rassismus, (Rassismus war ihnen selbst auch nicht fremd), haben für sie die Konditionen des Versailler Vertrages gelockert, als sie an der Macht waren, wie auch deren Aufrüstung über das Maß der Selbstverteidigung hinaus toleriert, ja sogar unterstützt, und ihnen den Weg zur Expansion Richtung Osten frei gemacht.

 

Aber als sich Hitler dafür stark genug fühlte, wollte er aus dem vorgesehenen Drehbuch ausbrechen, nach dem die westlichen Imperialisten zusehen wollten, wer am Ende geschwächt übrig bleibt, wenn er die Sowjetunion angreift, ein Ringen zwischen den zwei potentiell stärksten Ländern auf dem Kontinent. Natürlich vermuteten sie fälschlich, daß das Hitlerdeutschland sein würde. Dann hätten sie die Naziverbrechen „entdecken“ können, um die Nazis dann auch zu beseitigen. So gehen die USA im Prinzip auch heute noch vor. Die Hitlerbanditen wollten sich deshalb den Rücken freikämpfen, bevor sie weiter nach Osten marschierten. Sie wollten Frankreich besiegen, Großbritannien mit der Drohung einer Invasion zur möglichst wohlwollenden Neutralität zwingen (mit denen wollte Hitler eigentlich nicht Krieg führen, die bewunderte er, wie nicht wenige deutsche Faschisten, wegen ihres großen Kolonialreichs) und die USA damit auch aus der unmittelbaren Nähe des Kontinents weg halten. Das klappte bekanntlich so nicht, und damit war dieses Kartenhaus im Grunde schon am Zusammenbrechen. Aber trotzdem versuchte er die Sowjetunion zu überrennen, denn Stillstehen konnte sich dieser Vabanque-Spieler nicht leisten, das hätte die Opposition im Inneren gestärkt. Vor seinem Ende veranstaltete er noch einen entsprechend verheerenden Amoklauf nach außen wie nach innen.

 

Bald nach dem Krieg wurden alte Naziverbrecher, wenn sie sich der neuen US-amerikanischen Dominanz unterordneten, wieder nützlich für den Kampf gegen das sozialistische Lager, auch Kalter Krieg genannt. Schon wenige Jahre nach dem zweiten Weltkrieg wurden zum Beispiel nach dem „Stay-Behind“- Konzept vom US-Militär paramilitärische Banden organisiertAnm. 1, die vorwiegend aus Nazikreisen personell rekrutiert wurden. Nach der Aufdeckung wurde die oben erwähnte Gruppe aufgelöst, aber wurden solche Machenschaften jemals wirklich eingestellt?

 

So bildete sich diese rechtsradikale „Szene“, mit ihrem Wirrwarr von V-Leuten und Agenten verschiedener Couleur heraus, wo man sich manchmal fragt, was wohl noch Funktionierendes übrig bleibt, wenn man die diversen V-Leute und Agenten herauszieht. Aufgedeckt ist davon sicher bis heute nur ein Teil, und bei machen Hintergründen wird die hiesige Politik auch starke Hemmungen haben, sie aufzudecken. Die berühmten „Pannen“ sind eventuell auch Zeichen dafür, daß eine „unsichtbare Hand“ von weiter Oben eingreift, wenn die Aufdeckung zu weit geht. Woher haben die Nazibanden wohl ihre Überheblichkeit, als wenn ihnen keiner was kann? Nicht weil sie in der Bevölkerung so verwurzelt sind, was immer wieder versucht wird zu konstruieren. Sie denken, daß sie von den Herrschenden noch gebraucht und deshalb mit Schonung behandelt werden, wie das ja auch der Fall ist.

 

Das wird hier so ausführlich festgehalten, weil es ein gängiges Klischee ist, daß die deutsche Bevölkerung insgesamt dafür zu beschuldigen sei, daß solche üblen Machenschaften wie die Anschläge in Neukölln zugenommen haben, daß die sozusagen aus deren Mitte heraus begangen würden, weil ihnen quasi der Faschismus in den Genen liegt. Das ist auch schon beim NSU so geschehen, der doch offensichtlich vor allem ein Protektionskind des Staatsapparates war. Eher ist es so, daß die Neonazi-Kräfte in bestimmten Gebieten, wo sie für ihre Demagogie Ansatzpunkte sehen, ihre Aktivitäten konzentrieren. Da scheinen sie eben Neukölln mit seinen vielfältigen Vorgängen der Verdrängung, des sozialen Sprengstoffs, der Widersprüche zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen als einen scheinbar günstigen Boden für sie zu sehen.

 

Es spielen natürlich auch gesellschaftliche Vorgänge dabei eine Rolle. Ein Beispiel sind die gesellschaftlichen Verwerfungen. Z.B. in Teilen der früheren DDR, die beim NSU eine Rolle spielten, daß man auch neue jüngere Kräfte rekrutieren konnte. Nachdem manche plötzlich völlig in der Luft hingen und sich einem Kapitalismus gegenüber sahen, der sie nicht brauchte, waren sie verführbar von einer Richtung, die ihnen wieder ähnliche spießbürgerliche Gemütlichkeit wie zu DDR-Zeiten verspricht. Ähnliche Milieus gibt es auch im Westen. Die Mitläufer und kleinen Fußsoldaten sind nicht selten deklassierte Elemente, die weder im noch gegen den heutigen Kapitalismus eine Perspektive sehen, und für die Drahtzieher einfach als Bauern im Spiel benutzt werden.

 

 

Konzepte der ethnischen Spaltung

 

In den neuen „Global-City“-Träumen Berlins gibt es zwangsläufig die Tendenz, daß es auch noch untere Bevölkerungsschichten geben muß, denn jemand muß schließlich die Büros putzen, die Pizza liefern oder dergleichen bei den umworbenen neuen qualifizierten Kräften in der IT-, StartUp- und Medienstadt usw., die man vor allem aus aller Welt anziehen will. An Stelle der einst selbstbewußteren und organisierteren Arbeiter sind es heute Arbeitslose, manchmal schon in der dritten Generation, Gebäudereiniger, Dienstboten und dergleichen oft prekäre Jobs, von denen die unteren Schichten der schönen neuen grünen de-industrialisierten Gesellschaft geprägt sind. Eine ethnische Aufspaltung soll noch zusätzlich verhindern, daß solidarischer Widerstand entsteht. Da sind Neonazi-Umtriebe in den Quartieren der unteren Bevölkerung vielleicht nicht immer so unwillkommen, wie das öffentlich bekundet wird. In den USA kann man das doch auch sehr gut beobachten, wie man die untere Bevölkerung sich in den Gettos gegenseitig zerfleischen läßt. So hält man die Armen nieder, reduziert diejenigen, die man nicht verwerten kann. Das darf hier kein Vorbild sein.

 

Natürlich ist es auch richtig, die AfD dafür anzugreifen, daß sie Faschisten in ihren Reihen duldet und dafür tätig ist, deren Positionen wieder gesellschaftsfähig zu machen. Teilweise sammelt sich da auch das, was einst die rechten Flügel der alten staatstragenden Parteien bevölkerte. Die sind ihre alten NSDAP-Nazis vor allem auf „biologischem“ Wege losgeworden und haben auf ihre Weise nicht wenig daran mitgewirkt, die AfD zu etablieren. Indem sie sich gegen einen Teil ihrer vormaligen Wähler wandten, vor allem aus dem sogenannten „Mittelstand“, deren Angst vor tatsächlichem oder befürchtetem sozialen Abstieg sie als „Modernisierungsfeindlichkeit“ und psychologisch begründet abtaten, sowie deren Weigerung sie weiter zu wählen, als „unpolitisches Verhalten“, schoben sie diese regelrecht in Richtung der AfD, die speziell solche Thematiken aufgreift, ohne aber selbst wirklich eine Lösung dafür zu haben. Sie vertreten die abwegige Vorstellung (die aber unter Linken auch anzutreffen ist), daß es ein Zurück zu den alten bundesrepublikanischen Zuständen geben könne. Bei ihnen aber in der demagogischen Variante, daß es möglich sei, wenn nur die Ausländer im Inland wie international als Konkurrenten um staatliche Zuwendung beseitigt würden. Völlig ist der Damm gebrochen mit der „Wir schaffen das“-Politik von Angela Merkel, die am meisten Wasser auf die Mühlen der AfD geleitet hat. Sie haben sich sofort auf dieses Thema geworfen, verknüpfen das in demagogischer Weise mit den Abstiegsängsten des sogenannten „Mittelstands“ und reiten seitdem auf dieser Welle.

 

Auch griffen sie die Problematik des Niedergangs großer Gebiete im Osten auf. Dort sind zum Beispiel weite Gebiete ausgedünnt und überaltert, weil nach der weitestgehenden Deindustrialisierung die Jüngeren und Mobileren in den Westen, der Arbeit hinterher, gezogen sind. Die „neuen Bundesländer“ haben jetzt 13,5 Millionen Einwohner, so viele wie zuletzt 1905 auf diesem Territorium lebten! 1989 hatte sie noch 16,48 Millionen Einwohner gehabt. Die Bevölkerungsverluste seit der Vereinigung sind eineinhalb Mal so groß, wie die durch die vorherigen sogenannten Flüchtlingswellen in der DDR. Auch hier haben sie keine Lösung, aber präsentieren die Immigranten als angebliche Schuldige, mit deren Beseitigung angeblich alles besser würde.

 

Natürlich dient das vor allem den Herrschenden, die das nach dem Prinzip „teile und herrsche“ natürlich gerne sehen, wenn die Betroffenen ihrer Maßnahmen sich gegenseitig bekriegen. Auch hat das alte Spießertum anscheinend in der DDR, wo die Jugend- und Studentenbewegung der sechziger- und siebziger Jahre so nicht stattgefunden hat, mehr überlebt. Man könnte es aber auch so interpretieren, daß die Einwohner dafür „bestraft“ werden, daß sie einst zum sozialistischen Lager gehört haben, auch die Spießer vielfach staatstreu und loyal waren, solange der Staat fest im Sattel saß, und nun das Gebiet nicht nur in der Wirtschaftsstruktur, sondern auch bevölkerungsmäßig „umstrukturiert“ wird. Dabei wurde die Deindustrialisierung des Westens im Zeitraffer nachgeholt und noch teilweise übertroffen. Heute geht es nur dem Ruhrgebiet im Westen so schlecht im größeren Maßstab, wo auch die Deindustriaisierung besonders gewütet hat, aber auch da gab es eine selbstbewußte und kämpferische Arbeiterklasse, die perspektivisch als Bedrohung der bürgerlichen Ordnung angesehen wurde. Manche Linken, jedenfalls nach dem eigenen Anspruch, vergeben da Möglichkeiten der Agitation und überlassen der AfD und Neonazis das Feld.

 

Das alles sieht insgesamt danach aus, daß man seitens maßgeblicher Kreise der herrschenden Kräfte wieder ganz bewußt in diesem Land eine rechte Bewegung hochkommen läßt, die untere Bevölkerung in ethnische Konflikte untereinander treibt, und manche Linken taumeln wie Lemminge in diese Entwicklung hinein. Sie sind selbst so naiv, den Herrschenden auf den Leim zu gehen und die falsche Spaltung mitzutragen.

 

 

Gegen ethnische Vorurteile mit ethnischen Vorurteilen?


Unangenehm aufgefallen ist bei der Demonstration, daß es Redner gab, die über Rassismus klagen, dabei aber ethnischen Chauvinismus auf der anderen Seite völlig mit Schweigen übergehen. Das in letzter Zeit stärkere Vorgehen gegen die sogenannte Clankriminalität wurde in manchen Redebeiträgen nur als rassistisch motiviert und diskriminierend dargestellt. Auch auf der Webseite des Veranstalters heißt es:

„Betroffene der jüngsten Welle rechter Übergriffe berichten von zunehmenden rassistischen Anfeindungen. Zudem sehen sich viele durch die reißerische Berichterstattung über eine angebliche „arabische Clankriminalität“ unter Generalverdacht. Neonazis und Rassist*innen fühlen sich davon offenbar ermutigt. Das lassen wir nicht zu!

Ein Transparent lautete auch: „Wer aber von Shisha-Razzien und SignaAnm. 2 nicht reden will, soll auch von Nazis schweigen“. Was ist das denn für eine Logik? Tatsache ist, daß diese Erscheinung solcher Banden nicht nur von deutschen Bewohnern als Problem wahrgenommen wird, nicht selten von solchen, die mindestens genauso gegen faschistische Umtriebe sind, sondern durchaus zum Teil auch von arabischen oder anderen Migranten, die aber mit öffentlichen Äußerungen eher vorsichtig sind, weil sie in größerer Nähe zu den Kräften dieser Clans leben und den deutschen „Sicherheitsorganen“ nicht vertrauen. Auch gibt es bei Migranten ebenfalls nicht nur Menschen, die immer die lautere, unparteiische Wahrheit sagen. Ein gewisses „völkisches“ Zusammengehörigkeitsgefühl gibt es auch da bisweilen und wird da offenbar eher von Leuten akzeptiert, die bei anderen sofort Nazi rufen würden.

 

Es ist grundsätzlich nicht zu akzeptieren, daß bestimmte Kräfte hier eine Parallelgesellschaft versuchen zu etablieren, in der sie z.B. nur – letztlich doch auch ethnisch spaltenden – Clangesetze gelten lassen, genauso wenig wie eine, in der nur die jeweilige Auslegung des Islam akzeptiert ist, auch wenn das in ihren Herkunftsländern so üblich war. Die gewaltsame Durchsetzung von archaischen teils religiösen Regeln aus den Herkunftsländern bis hin zu bestialischen Morden oder Zwangsverheiratungen im Herkunftsland ist keine Bagatelle – erzrechts ist das allemal. Auch davon darf man nicht schweigen. Ein friedliches Zusammenleben hängt nicht nur von einer Seite ab. Auch Erdoğan vertritt eindeutig einen ethnischen (völkischen) Nationalismus und koaliert mit pan-tükischen Chauvinisten, deren heimliche Zusammenarbeit mit deutschen Neonazis schon ans Licht gekommen ist. (Graue Wölfe und NPD oder Lummer). Er ruft seine Anhänger auf, sich hier von der übrigen Bevölkerung zu separieren. Ist das nicht klassischer völkischer Nationalismus, wenn er bei türkischstämmigen Menschen, die ihn kritisieren, von „verdorbenem [türkischem] Blut“ redet? Wir müssen als Linke doch auch die linken, fortschrittlichen Kräfte aus diesen Ländern unterstützen. Daß das bei dieser Demonstration nicht der Schwerpunkt war, ist natürlich klar, aber insgesamt hatte man bisweilen schon einen zu blauäugig-einseitigen Eindruck. Zwischen Verschiebung des Schwerpunktes und völliger Ignorierung gibt es schon noch eine Bandbreite.

 

Und wenn es in der deutschstämmigen Bevölkerung durchaus auch bisweilen Tendenzen der unangebrachten Überheblichkeit gibt, sind doch dort keineswegs alle Rassisten oder sympathisieren mit Nazis, auch solche, die nicht zur sogenannten „linken Szene“ gehören. Die Solidarität der unteren Bevölkerungsschichten gegenüber der Klassenunterdrückung muß gefördert werden, und Solidarität kann nicht nur in eine Richtung gehen, wenn man auch von der deutschen Bevölkerung ein größeres Maß an Einsicht erwarten muß angesichts der historischen Erfahrungen in diesem Land. Zumal in Bereichen Neuköllns aktuell eine starke Verdrängung ärmerer Bevölkerungsteile stattfindet und auch schon seit langem läuft, und keinesfalls nur migrantischer Bevölkerungsteile. Marzahn meldet gerade aktuell einen verstärkten Zuzug ärmerer Menschen aus Neukölln und Mitte. Dazu gehört auch die Ablehnung von Konzepten, hier ein Wolkenkuckucksheim aus den großen Gewinnen finanzieren zu wollen, die heute aus der Industrieproduktion und den Rohstoffen in anderen Teilen der Erde geschöpft werden.

 

Ethnische Spaltung ist out. Gefragt ist der Zusammenschluß aller Betroffenen, egal welcher Herkunft. Eine Frage, der nachgegangen werden muß, ist auch die offensichtliche Tatsache, daß man zum Beispiel bei den großen Mieterdemonstrationen und Aktionen oder zum Beispiel auch auf den Demonstrationen für eine bessere Kitaversorgung 2018 sehr wenig türkische oder sonstige migrantische Teilnehmer gesehen hat. Was ist da los? Wo sind die linken Organisationen geblieben? Stehen sie so unter Druck durch die jeweiligen Regimes oder was ist da los? In Neukölln muß es doch auch türkische Mieter geben, die von der Verdrängung dort betroffen sind. Warum sieht man so wenig von ihnen bei den Widerstandsaktionen hierzulande? Wie gehen sie mit dieser Frage um?

 

Auch innerhalb der Migranten gibt es Klassenunterschiede, auch innerhalb dieser „Clans“, wo sie mit solchen Regeln, wie daß die Einheit des Clans über allem stehe, zugekleistert werden sollen. Werden die linken Kräfte in solchen Milieus so unterdrückt, daß sie nicht mehr öffentlich auftreten? Ist der Terror der Grauen Wölfe zu stark? Eine Vorstellung der Höherwertigkeit von Türken, Angehörigen arabischer Clans (oder der Anhänger der muslimischen Religion) gegenüber der unteren deutschen Bevölkerung ist auch rechts. Druck nach innen bis zum Mord oder Entführung und Zwangsverheiratung gehören doch wohl auch bekämpft. Auch wenn man nicht übersieht, daß auch die deutschen Behörden mit ihrer Politik gegenüber diesen Kreisen, denen hier keine legale Perspektive geboten wurde, ihren Anteil an der Entwicklung hatten. Natürlich ist es auch völlig richtig, niemanden wegen seines Familiennamens gleich abzustempeln, wenn er in seinen Taten dazu keinen Anlaß gibt. Natürlich gibt es auch Gegenkräfte, die man unterstützen muß, was so aber nicht erfolgt. Jedenfalls ist doch das Problem nicht für eingebildet zu erklären und ist nicht zuletzt ein Problem für die untere Bevölkerung, die dem tagtäglich ausgesetzt ist.

 

Man kann immer schön erzählen, daß der Graben nicht zwischen den Völkern, sondern zwischen Oben und Unten verläuft, aber dann arbeitet man doch für das Gegenteil, indem man die mehr deutschstämmige untere Bevölkerung unter Generalverdacht stellt wegen der Naziherrschaft vor einem dreiviertel Jahrhundert und das Negative bei Untergrundkapitalisten, die anderer ethnischer Abstammung sind, bewußt ausblendet? Man kann den Graben nicht nur von einer Seite aus vertiefen.

 

Als der Bezirkspolitiker Fehrat Kocak, der ein Opfer der Anschläge war, von Journalisten darauf angesprochen wurde, daß ein beschmiertes Gebäude, wo Scheiben eingeworfen wurden, Eigentum einer berüchtigten sogenannten „Clanfamilie“ ist, (was in den Redebeiträgen auf der Demonstration mit keinem Wort erwähnt wurde, zumal das auch noch bei einem anderen Gebäude mit einem attackierten Laden der Fall ist) sagte er, daß das Vorgehen gegen Kriminalität natürlich legitim ist, aber die Art und Weise, wie es in der Öffentlichkeit ausgeschlachtet wird, sei falsch. Aber wenn man dazu auf der Demonstration überhaupt nichts sagt, nicht einmal in einem Nebensatz, entsteht der Eindruck, daß man eben das Negative nur auf einer Seite sucht, während man es auf der anderen Seite bewußt übersieht, also selbst ethnisch diskriminiert. So fördert man doch die rechte Demagogie.

 

Man hätte das doch in einer angemessenen Weise tun können, denn als Immobilienbesitzer in einem Kiez, der besonders der Verdrängung und sozialen Veränderung unterworfen ist, positionieren sich diese Kräfte ja nicht unbedingt als arme untere Migranten. Man hätte auch die Demagogie der Neonazis angreifen können, die sich an die Frage der kriminellen Bandentätigkeit anhängen, mit ihren Anschlägen aber keineswegs vorwiegend diese treffen. Die besagten Banden drängen dagegen doch selbst in eine privilegierte Stellung als Kapitalisten und versuchen ihr Kapital in legale Geschäfte zu investieren. Daß sie dabei mit der unteren Bevölkerung, vielleicht abgesehen vom eigenen Clan, rücksichtsvoller umgehen, ist nicht zu erwarten. Ist ein Immobilienspekulant ein besserer Immobilienspekulant, wenn er als Immigrant ins Land gekommen ist? Bei einem der Redner hätte man das denken können, der Immobilenspekulation und andere üble Machenschaften angriff und direkt vor dem Haus eines arabischen zumindest Möchtegern-Immobilienspekulanten diesen nicht mit einem Wort erwähnte.

 

So schafft man eine Konfrontation von zwei Seiten, die beide falsch liegen. Da lacht bekanntlich der Dritte. Es war trotzdem gut, daß diese Demonstration, die ganz überwiegend deutschstämmige Teilnehmer hatte, durch den arabisch geprägten Teil der Sonnenallee ging, und so faktisch auch gegen eine Segregation nach Abstammung demonstrierte, aber wenn man die rechten und spalterischen Elemente nur auf einer Seite kritisiert, ja auf der anderen Seite nicht einmal vorsichtig Probleme anspricht, stärkt man auf beiden Seiten Kräfte, die kein Zusammenkommen wollen. Rassismus, Chauvinismus, Reaktion, Faschismus – das ist immer zu bekämpfen und keine Frage der Ethnie. Wenn man in dieser Weise Unterschiede macht, kann man damit nicht fertig werden.

 

 

 


Anm. 1  Sehr aufschlußreich ist auch das Buch von Leo A. Müller „Gladio – das Erbe des Kalten Krieges. Der Nato-Geheimbund und sein deutscher Vorläufer“ von Januar 1991, das die Zusammenhänge deutlicher und ausführlicher darstellt, als der inhaltlich schon etwas abgeschwächtere Beitrag bei Wikipedia, jedenfalls zum gegenwärtigen Zeitpunkt.

Anm. 2  Signa ist der Konzern, der das Karstadt-Kaufhaus am Neuköllner Hermannplatz wieder im alten Prachtstil von 1929 aufbauen will, was natürlich mit der Umformung der Stadt zur „Global-City“ zusammenhängt, zur Stadt vor allem für die Bedürfnisse einer internationalen Oberschicht. Denen will man ein attraktives Umfeld bieten, die ansässige untere Bevölkerung und deren Bedürfnisse zählen nicht wirklich. Das ist schon anzugreifen, aber das richtet sich auch gegen die frühere deutsche Industriebevölkerung aus der Zeit, als Berlin die größte Industriestadt Deutschlands war, die keineswegs nur deutschstämmig war. Warum man den Immobilienspekulanten den ethnisch separierten Untergrund-Kapitalismus als Alternative entgegenhalten muß, erschließt sich mir nicht.

 

 

 

 

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