Internet Statement 2009-14

 

Bildungsstreik!

Warum Staat und Kapital diese ruinöse Bildungspolitik betreiben

Walter Grobe  18.6.2009    

An den Aktionen des Bildungsstreiks haben bereits hunderttausende Schüler und Studenten teilgenommen. In vielen kleineren und größeren Städten fanden gestern Demonstrationen statt, die oft über 5000, teilweise weit mehr als 10.000 Teilnehmer hatten. Die Unzufriedenheit mit den Zuständen im Bildungswesen bringt mittlerweile viele dazu, sich erstmals öffentlich politisch zu Wort zu melden. Mit Demonstrationen und ähnlichen Aktionsformen wird man zwar den Staat und das Kapital nicht von ihrer destruktiven Grundrichtung abbringen - sie werden sie vielleicht verzögern und mit scheinbaren Reformen der "Reformen" verschleiern -, aber das politische und gesellschaftliche Denken wird, so hoffen wir jedenfalls, von solchen großen gemeinschaftlichen Aktionen Impulse bekommen und sich vertiefen. Wenn man den Gegner besser kennt, kann man erfolgreicher kämpfen. Dazu sollen die folgenden Zeilen über Bildung und Kapitalismus beitragen.


„Soziale Öffnung der Hochschulen

• den Abbau von Zulassungsbeschränkungen durch den Ausbau von Studienplätzen!
• die Abschaffung von Studiengebühren und die gesetzlich verankerte Gebührenfreiheit von Bildung!
• die finanzielle Unabhängigkeit der Studierenden – ohne Kredite!
• die Abschaffung jeglicher Diskriminierung, auch in ihrer institutionalisierten Form gegenüber ausländischen Studierenden!

Abschaffung von Bachelor/Master in der derzeitigen Form

• die Abkehr vom Bachelor als Regelabschluss!
• das Ende von Verschulung, Regelstudienzeit und Dauerüberprüfung!
• die Möglichkeit individueller Schwerpunktsetzung im Studium!
• die tatsächliche Umsetzung der Mobilität zwischen den Hochschulen!“

Solche Forderungen spiegeln in der Tat Zustände wider, die nicht mehr hingenommen werden können. Dieser Staat erschwert den Zugang zu qualifizierter Ausbildung und Wissenschaft immer weiter, statt ihn zu fördern. Er verschlechtert für die große Masse der Lernenden wie auch der Lehrenden weiter die Qualität und schafft privilegierte Minderheiten an sog. Exzellenzunis und anderen Einrichtungen, die gegen die Mehrheit, die Kritik und die Demokratie ausgespielt werden.

Daß Professoren in vielen sog. Massenfächern Seminare mit vielen Hunderten von Teilnehmern durchführen und hunderte von Prüfungsarbeiten pro Jahr gerecht bewerten sollen, daß ErzieherInnen allein oder zu zweit Gruppen von 20 und mehr Kindern zu beaufsichtigen haben, ist mittlerweile Alltag des Staates BRD, und es wird schlimmer. Die herrschenden Kreise dieses Staates haben es nicht nur an erster Stelle zu verantworten, daß er einer der kinderärmsten unter den vergleichbaren Ländern ist (mit einer Geburtenrate um 1,3 verglichen mit Werten um 2,0 in Frankreich, Großbritannien oder den USA - mittlerweile beginnt auch der bisherige Ersatz durch Migration zu versiegen), sondern auch, daß der Nachwuchs zunehmend unzulänglich versorgt, erzogen und ausgebildet wird. Mit den sog. „Reformen“ der letzten Jahre werden solche Entwicklungen sogar noch verschärft, allerdings sind diese nicht neu, sondern ziehen sich, wie auch die hochproblematische Bevölkerungspolitik, teilweise schon durch mehrere Jahrzehnte.

Die politischen Parteien üben sich mittlerweile alle Tage in Deklamationen, wie wichtig der Nachwuchs und seine gute Ausbildung seien, und treffen gleichzeitig im Zusammenspiel mit den Spitzen des Kapitals eine Maßnahme nach der anderen, die die Misere vertieft.

Die Auseinandersetzungen um die Kinderbetreuung, die derzeit im ErzieherInnenstreik sich zuspitzen, kombiniert mit den Auseinandersetzungen um Schule und Hochschule enthalten jede Menge Stoff für tiefgehende Diskussionen. Es geht nicht nur um die Milliarden, die der Staat für Erziehung und Ausbildung nicht hat – die gibt es nur für die Stützung krimineller Bänkercliquen -, es geht auch um fundamentale Fragen der Weiterentwicklung dieser Gesellschaft.

Der Aufruf zum Bildungsstreiks und die Forderungskataloge der Studierenden und der Schüler formulieren die wesentlichen aktuellen Forderungen in erfreulicher Frische und Direktheit. Es gibt zwar auch den einen oder anderen Punkt darunter, der wohl nicht mehrheitsfähig ist, weil er an der Realität vorbeigeht, aber in der Hauptsache werden sich viele Hunderttausende hinter diese Willenserklärungen stellen können und es hoffentlich auch weiterhin mit großem Nachdruck tun.

Die Autoren wissen auch offensichtlich recht gut, daß die Auseinandersetzung um das Bildungswesen letztlich von der Frage angetrieben wird, welche Art von Gesellschaft es in Zukunft sein wird, für die ausgebildet und gebildet wird, sehen sich aber anscheinend nicht in der Lage, hier klar Position zu beziehen. Das muß zwar auch nicht unbedingt die Aufgabe solcher kurzer Aktionsaufrufe sein, mit denen die große Mehrheit unmittelbar angesprochen werden soll, aber da es in der Natur der Bildungsfragen liegt, müssen die Fragen der gesellschaftlichen Gesamtentwicklung in der Diskussion unweigerlich hochkommen. An dieser Stelle möchten wir es daher nicht versäumen, auf bestimmte gesellschaftspolitische Aussagen der Aufrufe näher und kritisch einzugehen. Die Qualität der gesellschaftlichen Ziele und Vorstellungen ist auf längere Sicht entscheidender in einem politischen Kampf als die konkreten Einzelforderungen. Deswegen wird der Bildungsstreiks umso erfolgreicher sein, je breiter und tiefer sich durch ihn die Diskussion um die künftige Entwickung der Gesellschaft entfaltet. Es geht letztlich erneut um die Frage der Überwindung des Kapitalismus durch eine Gesellschaft, deren Grundlage das gemeinschaftliche Eigentum der Arbeitenden selbst am gesellschaftlichen Vermögen ist (genauer ausgedrückt, die Vergesellschaftung der Produktionsmittel), um die Frage, ob Sozialismus, alle positiven und negativen Erfahrungen der bisherigen Versuche summierend, nicht doch die bessere Form für gesellschaftliche Entwicklung und individuelle Freiheit ist.

1. Bildung als Ware

Eine der besten und zusammenfassendsten Feststellungen im studentischen Forderungskatalog lautet:

„Stattdessen wird Bildung den Bedürfnissen des Marktes angepasst und damit selbst mehr und mehr zur Ware. Global sind es die GATS-Verträge, in Europa der Bologna-Prozess, die den Kern solcher Reformen bilden.“

In der Tat werden mit solchen „Reformen“ die Schulen und Hochschulen zu „Dienstleistern“ umdefiniert, die gegen entsprechende Entgelte den „Kunden“, d.h. der jungen Generation, bestimmte Kenntnisse und Fertigkeiten „verkaufen“. Deren Angehörige werden ihrerseits darauf getrimmt, die erworbenen Fähigkeiten als besondere Qualitäten ihrer individuellen Ware, der Ware Arbeitskraft, anzusehen und sie in Konkurrenz zu den übrigen Absolventen in Cash umzusetzen. Der bildungsfeindliche und damit massen- und demokratiefeindliche Grundzug des heutigen Kapitalismus tritt hier in großer Deutlichkeit hervor. Nach seinen Prinzipien ist alles Ware, vor allem auch der Mensch selbst, alles und jeder ist käuflich, und in diesem System gibt es nichts, was das Kapital so wenig gebrauchen kann wie kritisches gesellschaftliches Denken, wissenschaftliche systematische Untersuchungen über Geschichte und Gesellschaft und die dazu erforderliche intellektuelle und moralische Unabhängigkeit.

Auf der Grundlage der Lohnarbeit, der fundamentalsten Eigenschaft des Kapitalismus, auf der Grundlage, daß der Mensch seine Ware Arbeitskraft an irgendein Kapital verkaufen muß, kann es allerdings in der Konsequenz auch nicht anders sein. Manche meinen, früher sei das alles nicht so gewesen, da habe das „Gemeinwohl“ mehr gegolten, und erst seit einigen Jahren würden alle Lebensbereiche „den Marktgesetzen unterworfen“, wie es auch im Aufruf eingangs formuliert wird. Den heutigen Kapitalismus kann man zwar in der Tat als einen entfesselten Kapitalismus bezeichnen. Das heißt, ohne die Rücksichten auf sozialen und internationalen Widerstand nehmen zu müssen, der noch bis in die Zeit vor etwa dreißig Jahren wesentlich stärker war als heute, versucht der Kapitalismus die Gesellschaft seinen Verwertungsinteressen immer direkter und radikaler anzupassen. Aber in den Kämpfen vom Ende der 60er Jahre sieht man schon dieselben konfrontativen Themen wie heute: den Kampf gegen das unpolitische verschulte Fachidiotentum, dem die Masse der Studierenden unterworfen werden sollte, gegen den Ausschluß der sozial Schwächeren, gegen die Bildung von kapitalismushörigen Eliten. Der Kampf gegen die Unterfinanzierung des Bildungswesens, gegen zu große Klassen etc. war dann jahrzehntelang immer wieder auf der Tagesordnung. Der Kapitalismus und sein Staat wurden allerdings Ende der 60er/Anfang der 70er Jahre von revolutionären Massenbewegungen herausgefordert, in die Enge getrieben und mußten erhebliche Konzessionen machen, das hat sie noch durch Jahrzehnte hindurch veranlaßt, sich nicht mit solch unverschämtem politischen Vorgehen wie jetzt in die Nesseln zu setzen

Den Zusammenhang der immer weitergetriebenen Verwandlung von Bildung in Ware mit dem Kapitalismus, dem Warencharakter der menschlichen Arbeit, muß man thematisieren und nicht bei der Anklage stehenblieben, daß Bildung keine Ware werden dürfe. Wird sie aber, und im heutigen Kapitalismus ist das unvermeidlich! Wer die Zerstörung von Wissenschaft und Bildung unter diesen Leitlinien bekämpfen will, kann an der gesellschaftlichen Grundlage des Prozesses nicht vorbeischauen.

2. Wissenschafts- und bildungsfeindliche Tendenzen innerhalb der Schulen und Hochschulen selbst, und ihre staatliche Förderung

Mit Recht wird verlangt, zur Behebung der schlimmsten Mißstände die notwendigen Stellen zu schaffen, 8000 Professuren, 4000 Stellen im Mittelbau und 20.000 Tutorenstellen. An dieser Stelle sollte allerdings auch einmal die Frage nach den wissenschaftlichen und pädagogischen Qualitäten des Personals angesprochen werden. Wenn vor allem die Zahl der angepaßten Diener des Systems erhöht wird, geht die Forderung nach hinten los. Der Professorentyp eines Schellnhuber beispielsweise, derzeit obersten Beraters der Bundesregierung in Sachen des sog. Klimaschutzes, wirft Fragen auf. Eine akademische Lehre mit dem Hauptinhalt: die Erde geht unter, daher müssen sich die Massen sich in ihren Ansprüchen einschränken und bürokratisch eingeschränkt werden, Armut ist angesagt (natürlich nicht für die Oberschichten) und am besten sogar radikale Schnitte in den Bevölkerungszahlen – eine solche Lehre ist wissenschafts- und emanzipationsfeindlich im Quadrat und entspricht nur dem radikalsten Kapitalismus. Es ist vor allem dieser Typ „Wissenschaftler“, oft natürlich in weniger auffälligen Formen als im Falle des Genannten auftretend, dessen akademische Karriere schon seit langem von diesem Staat gefördert wird; es ist vor allem dieser Typ Lehrer, der solche Weisheiten den Schülern vorsetzt, der der Minsterialbürokratie genehm ist.

Weder der Wissenschaftler, der kritiklos sich in den Dienst irgendwelcher Profitinteressen von Unternehmen stellt, noch auch der, der unter ökologistischen Prämissen die Entwicklung der Menschheit selbst als den Feind der Menschheit sieht und aus dieser grundverkehrten Sicht den Maßstab seines - angeblich antikapitalistischen - Engagements bezieht, repräsentiert den Typ des modernen Wissenschaftlers, den diese Gesellschaft zu ihrer Emanzipation braucht. Man muß leider feststellen, daß Schule und Hochschule gerade in unserem Land in den vergangenen Jahrzehnten von der pseudo-emanzipativen ökologistischen Scharlatanerie nicht unerheblich von innen her untergraben worden sind. Mangelndes Interesse der Schüler und Studierenden ist auf dieser Grundlage unvermeidlich; pessimistische, egoistische und anpasserische Mentalitäten kommen gerade auch aus dieser Richtung.
Unsere Organisation ist übrigens die einzige in diesem Land, die sich der perversen Paarung von sozialistischen revolutionären Ideen mit dem kapitalistischen Ökologismus seit Jahrzehnten widersetzt.

3. In der Umschreibung des Kapitalismus als „Wettbewerbsgesellschaft“ kommt dieser zu gut weg

An einer Stelle des Aufrufs heißt es z.B.:

„Die Finanz- und Wirtschaftskrise zeigt deutlich, dass die Auswirkungen wettbewerbsorientierter Entscheidungskriterien verheerend sind.“

Was bedeutet diese komplizierte Wortkombination?
Das Wettbewerbsprinzip ist zunächst einmal innerhalb der Ausbildung und der Wissenschaft keineswegs pauschal abzulehnen. Intellektuelle Leistungen werden oft von einem Milieu des intellektuellen Wettbewerbs stimuliert und hängen von einem solchen Milieu ab. Wenn man zurecht die Unterordnung der Bildung unter die Konkurrenzinteressen des Kapitals ablehnt, sollte man nicht in den Fehler verfallen, Wettbewerb überhaupt zu negieren und der Lähmung das Wort zu reden. Intellektueller oder sportlicher Wettbewerb beispielsweise kann durchaus, wie viele Beispiele hervorragender Wissenschaftler und Sportler zeigen, mit einer Solidarität und gegenseitigen Förderung der Konkurrierenden einhergehen. Auch in einer zukünftigen auf dem Gemeineigentum an den Produktionsmitteln beruhenden Gesellschaft wird es Wettbewerb auf vielen Feldern geben, er wird sich sogar freier entwickeln können als im Kapitalismus, wo schon die Veröffentlichung wichtiger Forschungsergebnisse ständig von kapitalistischen Interessen beeinflußt, verhindert oder verbogen wird und die Bachelors etc. möglichst in eine unschöne Art von Wettbewerb getrieben werden, nämlich um die höchste Angepaßtheit und das gehorsamste Aufnehmen von Lernstoff.
Wenn man Wettbewerb im Hinblick auf unsere heutigen Verhältnisse einseitig bloß als kapitalistischen Wettbewerb um die höchsten Profitraten versteht, dann ist es allerdings in der Tat völlig richtig dagegen zu protestieren, daß der die Entscheidungen über die Bildungspolitik bestimmen soll.

Ein Blick noch auf den Wettbewerb im noch existierenden Realkapitalismus: man kann es durchaus auch einmal bezweifeln, ob die Bachelors, so wie sie von den „Reformen“ konzipiert sind, den Unternehmen im Wettbewerb wirklich nützen. Und die – stark reduzierte - Schar der „Höherqualifizierten“, die aus diesem kapitalistischen System des Drills und der Bestechungen hervorgehen sollen, wird sie die Hoffnungen auf Exzellenz erfüllen? Es ist nicht ohne Reiz, diese Fragen mit Nein zu beantworten. Die Ideologen und Macher solcher kapitalistischer „Reformen“ wie GATS können im reaktionären Drang nach Selbsterhaltung einen breiteren Horizont, eine größere intellektuelle und moralische Selbständigkeit vieler Beschäftigter nicht mehr zugestehen, obwohl sie auch ökonomisch von Nutzen wären und durchaus auch einen wesentlichen Faktor des Erfolgs von Unternehmen oder ganzer Volkswirtschaften im Wettbewerb bilden, solange es noch Kapitalismus gibt. In ihrer zunehmenden mentalen Verkrüppelung durch ihr Prinzip des raschen pragmatischen Profits können die Macher von der Bertelsmann-Stiftung, in WTO, GATS und EU-Bürokratie nicht anders als gegen bestimmte Errungenschaften des bisherigen Bildungssystems vorzugehen, weil sie meinen, die kosten zu viel. Und ihrem reaktionären gesellschaftlichen Streben entspricht auch ganz generell der mündige Bürger nicht. Bildung der Bevölkerung ist für sie nicht nur zu kostspielig, sondern auch politisch gefährlich. Die innere Degeneration des Kapitalismus geht unaufhaltsam voran. Davon ist übrigens das Gebilde Bundesrepublik Deutschland aus tiefliegenden geschichtlichen Gründen in ganz besonderem Maße betroffen, stärker als bspw. Frankreich oder andere Länder.

Es schadet gewiß nicht, sich in der kommenden Diskussion Rechenschaft über den Charakter des Gegners, seine Hartnäckigkeit und seine Winkelzüge abzulegen. Die nachsichtigen und halben Umschreibungen, die der Aufruf für „Kapitalismus“ versucht zu formulieren, können auch eine Schwäche werden, die zu Niederlagen führt. Man muß den Gegner kennen und ihn mit sprengenden Infragestellungen seines ganzen Gesellschaftskonzepts unter Druck setzen. Nur dann kann man auch bildungspolitisch wirkliche Reformen erreichen. Die ökologistische Selbsteinschränkung, die Verneinung von Zukunft und Demokratie gehören dabei ganz klar zum strategischen Arsenal der Gegenseite. Davor darf es kein Einknicken mehr geben. Es ist ein erfreuliches Zeichen der Weiterentwicklung, daß die vorliegenden Aufrufe davon frei sind.

   

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